Lyrik heute – Das „Jahrbuch der Lyrik 2011“ – 1. Eindruck

Wird heute über Lyrik gesprochen, so wird dem Mangel an Lesern oft die Vielfalt lyrischer Produktionen gegenübergestellt.

In diesem Zusammenhang schließt es sich nicht gegenseitig aus, wenn Harry Oberländer von „lyrischer Massenproduktion“ ((Christoph Buchwald, Kathrin Schmidt, Jahrbuch der Lyrik 2011, München 2011, S. 232.)) spricht und Theo Breuer nur ein paar Seiten vorher betont, dass die Mehrzahl lyrischer Veröffentlichtungen „praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ ((Ebd., S. 218.)) stattfinde. – Lyrikbücher, so Breuer, fänden oft nur fünfzig bis zweihundert Leser, ab dreihundert verkauften Exemplaren habe man schon eine „Auflagenschallmauer“ durchbrochen ((Ebd.)).

Der Teil „Sechs Anmerkungen zum Gedicht“ im Jahrbuch der Lyrik 2011, ist entsprechend weniger ein Raum der Reflexion des Gedichts im Jahre 2011, sondern ein Ort, an dem sehr stark die Frage nach der Rezeption von Gedichten gestellt wird.

Neben die eher melancholischen Töne tritt dann noch Jürgen Brôcans papierlastiger und schwerer Beitrag, der noch am ehesten wirklich eine Anmerkung zum Gedicht der Gegenwart darstellt – ohne sonderlich zum Lesen von Gedichten anzuregen. so zumindest mein erster Eindruck von diesem Text.

Dass solche Texte einer Sammlung von mehreren hundert Gedichten nachgestellt sind, ist – erstaunlich.

Dieses Jahrbuch der Lyrik 2011 kann sowohl als Zeugnis großer Lebendigkeit des Dichtens als auch als Beleg für lyrische Massenproduktion gesehen werden, der aber nur sehr beschränkte Abnehmerzahlen (Leser) gegenüberstehen.

Dennoch schottet sich die Zunft ernstzunehmender Dichter von der Öffentlichkeit zumindest so ab, dass mir kaum Stimmen (Websites) von Dichtern im Netz bekannt sind. Kein Zweifel, dass mir da sicherlich einiges noch nicht begegnet ist – fast sträflich ist, dass ich http://www.poetenladen.de erst kürzlich entdeckt habe –, doch zweifle ich genau so wenig, dass ein großer Teil heutiger Literatur vielleicht am Rechner entsteht, aber dennoch vor allem analog behandelt, ausgedruckt wird, nicht im Netz stattfindet, obwohl vielleicht gerade gute Lyrik hier ihren Ort und ihre Leserschaft finden könnte, weit mehr als über Buchhandlungen, die oft sowieso keine zeitgenössische Lyrik mehr im Angebot haben.

Haben wir uns damit abgefunden, dass Lyrik jenseits von den Lyrics der Chart-Hits quasi erledigt ist?

Je zeitgenössischer ein Gedicht ist, um so schwerer fällt der Zugang. Es ist nicht möglich, Gedichte zu konsumieren, wie das mit Romanen oder Musik aus dem Charts oft möglich scheint.

Da Lyrik nun zu den in Schulen häufiger behandelten literarischen Gattungen gehört, ist es sicher nicht abwegig zu vermuten, dass man der Überlegung begegnet, dass es zwischen der Behandlung von Gedichten in der Schule und dem Mangel an Lesern, die kompetent mit Lyrik umgehen, einen Zusammenhang geben Könnte.

Vielleicht gibt es diesen Zusammenhang, meine Vermutung geht jedoch in eine andere Richtung: Lyrik zu lesen muss man kontinuierlich lernen; hin und wieder ein Gedicht zur Hand zu nehmen, reicht dazu nicht aus. Diese Form des Lesens von Gedichten als kontinuierlichen Prozess wird in der Schule eher weniger eingeübt.

Im Zentrum der schulischen Heranführung an Gedichte steht die Heranführung an literaturhistorisch bedeutende Gedichtformen und Epochen, ohne dass wir damit bis in die Gegenwart kämen. Moderne, zeitgenössische Literatur findet nur sehr beschränkt ihren Platz im Deutschunterricht.

Auf diesem Acker gibt es viel zu tun, so man der Überzeugung ist, dass sich die Beschäftigung mit Lyrik lohnt. – Da ich den Wert von Sprache zur Orientierung und zum Sein in der Welt nach wie vor als hoch ansehe, gehöre ich zu denen, die in der Beschäftigung mit Gedichten durchaus etwas Lebensrelevantes sehen, das alles in allem lebenswichtig ist.

Entsprechend räume ich Gedichten (zu wenig?) Platz in meinem Leben und auch in der Schule ein. Ich blogge Gedicht-Interpretationen, und versuche, möglichst vielen Personen zumindest eine Ahnung davon zu geben, dass die Beschäftigung mit Lyrik lohnt, auch wenn dies noch nicht dazu führt, dass ein nachhaltiger Zugang zu dieser literarischen Gattung möglich wird. – Dass es in ein paar Fällen allerdings gelungen scheint, stimmt mich zuversichtlich, dass es möglich ist, diesen Zugang zu Gedichten zu schulen und nachhaltig zu ermöglichen.