Vernetzen oder: Anmerkungen zur „Netzsensibilität“

Da ich mich nun also wirklich mehr und mehr, neben den vor allem auf persönlicher Begegnung beruhenden Netzwerken, in digitalen Netzwerken bewege, ist es an der Zeit, mir über das Thema einmal Gedanken zu machen. Zunächst eine Definition, die ich dem ZUM-Wiki entnommen habe:

Ein Soziales Netzwerk sind an sich alle menschlichen Gemeinschaften. Im Zusammenhang mit den neuen Medien meint man damit im engeren Sinne Gemeinschaften, die sich im Internet bilden.

Häufig werden sie von darauf spezialisierten Internetdiensten wie SchülerVZ, Spickmich, Twitter und ZUM-Unity beherbergt. Sie bilden sich aber auch in der Blogosphäre der Weblogs durch Verlinkung und Kommentargemeinschaften von Blogs.

Schließlich entstehen solche Netzwerke auch da, wo Benutzer gemeinsam eigene Inhalte erstellen (user generated content), das bekannteste Beispiel dafür ist die Wikipedia. Solche soziale Netzwerke bezeichnet man auch als Soziale Medien. (Nicht selten werden wegen der Zusammenarbeit von Blogs auch diese zu den sozialen Medien gerechnet.)

Der Umgang mit solchen Vernetzungen erfordert eine hohe Sensibilität in mehreren Bereichen:

  1. Im Web steht man potentiell immer unter Beobachtung; je bekannter eine Web-Persönlichkeit wird, um so stärker ist diese Beobachtung. Aber auch scheinbar völlig nebensächliche Aktivitäten können relevant werden, wenn z. B. bei einer Bewerbung auch eine Internetrecherche zu den Auswahlkriterien gehört. Es bedarf einer hohen Sensibilität für den Umgang mit dem Web, um es produktiv nutzen können, insbesondere bei der Frage, was im Web seinen Platz finden soll/kann oder nicht.
  2. Viele Online-Foren sind von Streitereien auf persönlicher Ebene geprägt, wozu die scheinbare Anonymität im Netz möglicherweise seinen Teil beträgt. Soll Vernetzung im Web produktiv werden, muss diese Vernetzung strickt den Codes von Netiquetten folgen und diese, wo nötig, auch weiterentwickeln.

Wie aber kann eine solche „Netzsensibilität“ (Jean-Pol Martin) konkrete Formen annehmen? Was ist im Netz zu beachten, damit im „Zusammenhang der Globalisierung und der Wissensgesellschaft ein kognitiv, aber auch emotional wahrgenommenes Gespür für die Interdependenz und Verwobenheit der Welt und aller ihrer Konstituenten (Menschen, Regionen, Länder, Kontinente)“ ((http://wiki.zum.de/Netzsensibilität)) entstehen kann? Diese Frage ist vor allem deshalb wichtig, weil Netzsensibilität  die Voraussetzung dafür ist, „dass Vernetzungswünsche anderer Menschen erkannt und fruchtbar umgesetzt werden“ ((http://wiki.zum.de/Netzsensibilität)).

Damit bin ich beim Kern der Sache: Vernetzung beruht auf gegenseitigen Vernetzungswünschen, wird also immer von persönlichen Intentionen bestimmt, die mehr oder weniger spezifisch sein können: In Fachcommunities geht es um bestimmte Sachfragen, die die Teilnehmenden zu Vernetzungswünschen treiben, in vielen Social-Communities geht es eher um persönliche Kontaktwünsche oder einfach darum, auch dort anzutreffen zu sein wo „alle“ sind (SchülerVZ ist da ein typisches Beispiel).

Was das für mich bedeutet, will ich hier entlang der von Jean-Pol Martin entwickelten Kriterien der „Netzsensibilität“ reflektieren. ((Jean-Pol Martin (2007): Wissen gemeinsam konstruieren: weltweit. In: Lernen und Lehren – Zeitschrift für Schule und Innovation in Baden-Württemberg. 33(1): S.29/30. Neckar-Verlag Villingen-Schwenningen.)) Eine Übersicht über den Stand der Entwicklung des Begriffs findet sich im ZUM-Wiki.

Nun aber zu den „Komponenten“ der Netzsensibilität nach Martin, die ich aus meiner Sicht kommentiere (und schon bin ich wieder mitten im Vernetzungsprozess drinnen):

  • Erkennen, dass man als Einzelner Träger von Ressourcen ist.

Um sich überhaupt auf den Prozess der Vernetzung, zumindest wenn Vernetzung auf Sachfragen und Interessengebiete hin ausgerichtet ist, einlassen zu können, muss der Einzelne überhaupt erst einmal zu der Einsicht kommen, dass er etwas zu sagen hat, das für mehr als nur ihn selbst interessant sein kann. „Ich selbst“ verfüge über eine Kombination aus Wissensbeständen und Lebenserfahrungen, die in dieser Zusammensetzung einmalig sind. Der Einzelne hat kognitive Reflexionsmöglichkeiten, die in der Mischung der Voraussetzungen, der Sub- und Kontexte des Nachdenkens für andere fruchtbar sein können. Aber auch die Kombination der Wissensbestände und Lebenserfahrungen anderer Individuen sind einmalig, so dass ein vernetzter Austausch zu einer Erweiterung der eigenen Ressourcen führen kann. Deshalb ergibt sie die Notwendigkeit zu

  • erkennen, dass man das eigene Ressourcenpotenzial aktiv vermehren soll, damit man die eigene Attraktivität in der Gruppe erhöht.

Eine überraschende Wendung: Es geht zunächst nicht darum, dass Vernetzung die eigenen Ressourcen erweitert, sondern darum, dass mit der Erweiterung der eigenen Ressourcen auch die Ressourcen anderer in der Gruppe vermehrt werden. Je mehr man sich aktiv um die Vermehrung der eigenen Ressourcen kümmert, um so mehr steigt die Bereicherung, die andere durch einen selbst erfahren können. So verstehe ich in diesem Zusammenhang die „Attraktivität“: Es geht darum, die gegenseitige Anziehungskraft durch die Erfahrung der Möglichkeit zur Vermehrung der eigenen Ressourcen in Netzwerken zu erhöhen – und damit auch die Anziehungskraft der Mitglieder zu stärken, das gemeinsame Arbeiten also auf eine zuverlässige Arbeitsgrundlage zu stellen. Andererseits entspricht die Erhöhung der eigenen Attraktivität durch aktive Vernetzung den Bedürfnissen, die der Mensch nach Maslow hat. Direkt mit dieser Erhöhung der eigenen Attraktiv ist die Erkenntnis verbunden,

  • dass man das eigene Ressourcenpotenzial durch Kommunikation erhöhen kann.

Und zwar nur durch Kommunikation, wobei ich unter Kommunikation auch die Auseinandersetzung mit Büchern verstehe, aber natürlich ebenso die konkrete Kommunikation von an Themen interessierten Individuen, sei es nun im Web oder in der persönlichen Begegnung (oder in beiden Bereichen). Ich muss kommunizieren, damit Wissen entstehen kann. Die eigene Attraktivität (oder auch Anerkennung)  hängt wesentlich davon ab, dass ich mich selbst nicht für zu wichtig halte und gleichzeitig doch darum weiß, dass ich wichtig bin und das der andere wichtig ist und erkenne,

  • dass Kommunikation dann entsteht, wenn der eine weiß, was der andere nicht weiß.

Dies ist eigentlich immer der Fall, wenn ich unter Wissen nicht nur lexikalisches Wissen verstehe, sondern ein Wissen, das mit eigenen Erfahrungen und den sich daraus ergebenden Denkhorizonten angereichert ist. Dabei muss das Kommunikation begründende, unterschiedliche Wissen nicht so unterschiedlich sein, dass es wieder anknüpfungslos wird, sondern kann auch darin bestehen, dass das Gegenüber gleiche Dinge anders sieht und somit neue, vertiefte oder veränderte Wissensbestände entstehen. Hier wirken die Menschen wie „Neuronen“ aufeinander ein. Und weil das so ist, gilt es zu erkennen,

  • dass durch Kommunikation und Weitergabe von Wissen das eigene Wissen vermehrt wird.

Wissen, dass man wie einen Schatz für sich behalten will, verfault. Wer die eigenen Talente nicht zu erkennen vermag und mit den eigenen Talenten nicht loszieht, um sie zu vermehren, reduziert seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten. Wenn ich meine Talente brach liegen lasse, dann verrotten sie und irgendwann sind sie verloren. ((Vergleiche: http://www.abtei-kornelimuenster.de/Spirituelles/Kirchenjahr/Glauben%20wagen.htm)) Kommunikation ist die beste (einzige?) Möglichkeit, das eigene Wissen (und damit meine ich nicht nur Theoriekenntnisse sondern auch praxisbezogenes Wissen) zu vermehren. Damit dies möglich ist, bedarf es der

  • Fähigkeit, Potenziale von anderen Gruppenmitgliedern zu erkennen, zu erschließen und für die Gruppe fruchtbar zu machen.

Kommunikation lebt von Empathie. Hier gilt das Gleiche, das für Schauspieler oder (Jazz)Musiker gilt, die mit anderen zusammen spielen: Es geht darum, nicht gegen den anderen zu spielen und seine Spielangebote zu verneinen (insbesondere bei der Improvisation), sondern um ein Gespür für die Kommunikationsangebote der anderen Gruppenmitglieder und deren positiver Aufnahme. Kommunikation ist tot, wenn sie kein Gespür für die Potentiale der anderen Gruppenmitglieder zu entwickeln vermag. Deshalb bedarf es über die Emapathie hinaus der

  • Fähigkeit, Kommunikation innerhalb einer Gruppe einzuleiten und aufrecht zu erhalten.

Dies ist eine Grundqualifikation, um gemeinsame Konstruktion von Wissen zu ermöglichen und sie bezieht sich nicht auf einen Gruppenleiter, sondern auf jedes Mitglied einer Gruppe! Die Aufgabe des Gruppenleiters (oder Lehrers) ist es unter anderem, diese Fähigkeit als Kompetenz zu vermitteln und deren praktische Umsetzung zu ermöglichen und professionell zu begleiten. Das Ziel dabei ist die Befähigung zur symmetrischen Kommunikation und der

  • Fähigkeit, die Transformation von Information zu Wissen in der Gruppe [selbst] anzuleiten.

Jedes Gruppenmitglied hat diese Aufgabe und „Flow“ kann in einer Gruppe entstehen, wenn alle Mitglieder ständig an diesem Prozess der Transformation beteiligt sind und dabei Synergien frei werden. Der Wert von Vernetzung liegt darin, dass das Ganze immer mehr als seine Teile ist, dass das Zusammenwirken auf gegenseitige Förderung hin ausgerichtet ist. Und hieraus ergibt sich dann die Notwendigkeit der

  • Fähigkeit, für die Gruppe relevante externe Ressourcen aktiv zu suchen.

Vier, sechs, acht, x Augen sehen nun einmal mehr als zwei und die aktive Suche nach für die Gruppe relevanten externen Ressourcen steht auch in Verbindung mit dem Kriterium, dass der Einzelne etwas wissen soll, das die anderen Gruppenmitglieder (noch) nicht wissen. Dies geschieht auch durch die Suche von Material, das in den vernetzten Prozess der Wissenskonstruktion eingespeist und miteinander erarbeitet wird. Doch Wissen, das nur konstruiert und keine konkreten Handlungen oder Handlungsbefähigungen nach sich zieht, ist totes Wissen. Deshalb bedarf es der

  • Fähigkeit, Handlungsbereitschaft zu erkennen und zu mobilisieren,

um Wissen für sich und andere fruchtbar zu machen und einen Beitrag auch der Kommunikation in das Außerhalb eines Netzwerkes leisten zu können. Denn jede Wissenskonstruktion muss zur Handlungsbefähigung führen, zu konkreten Projekten. Es reicht eben nicht, Wissensbestände anzuhäufen, sie müssen auch bewertet werden und zu Konsequenzen führen. Es geht um die Lösung von Probleme und „um Probleme zu lösen, müssen wir ununterbrochen neues Wissen konstruieren. In Einsamkeit geht das nicht. Zur Produktion von neuem Wissen, müssen Menschen kommunizieren“. Von daher bedarf es schließlich der

  • Fähigkeit, Kommunikation nach außen einzuleiten und aufrecht zu erhalten.

Und so theoretisch dieser Beitrag auch klingen mag: Ich mache genau das, was hier beschrieben wird. Ich greife eine Ressource auf und ergänze sie um meine Überlegungen zum Thema, wobei sich mein eigenes Resourcenpotential durch Vernetzungen in  fachbezogenen sozialen Gemeinschaften (Blogs, Feeds, ldl.mixxt.de, maschendraht.mixxt.de, Twitter) und der dort stattfindenden Kommunikationsprozesse selbst ständig erweitert. Dieser Beitrag ist, wie viele andere Beiträge auf dieser Website, Teil eines Kommunikationsprozesses, an dem mitlerweile überraschend viele Leute beteiligt sind. Dabei kann jeder eigenes Wissen beitragen und so wird die Kommunikation selbst überhaupt erst möglich, weil „man sich was zu sagen hat“. Ohne die Potentiale meiner Gesprächspartner im Netzwerk, wäre das alles nicht möglich, da diese einfach über Wissen verfügen, das mir so erst einmal nicht zur Verfügung steht. Doch das so gewonnene Wissen bleibt nicht in der Gruppe, sondern wird gestreut, „diffundiert“, sodass die in den Diskussionen ausgetauschten Informationen zu handlungsbefähigendem Wissen werden, woraus sich dann die unterschiedlichsten Projekte ergeben, wobei der Projektbegriff hier sehr weit verstanden wird, denn auch dieses Blogs ist ein solches Projekt unter vielen anderen, die an ähnlichen Themen arbeiten.