Der Kampf um die Definitionsmacht oder: Von korrekter Schreibung zu angemessenem Ausdruck
Das Chaos begann 1996, vor nunmehr dreizehn Jahren, ohne dass die damals ausgelöste Verwirrung ein Ende hätte. Aus dem „ß“ wurde in vielen Fällen ein Doppel-s, die Aneinanderreihung von drei Konsonanten wurde festgelegt (Schifffahrt; Fülllinie…), die Getrennt- und Zusammenschreibung wurde ebenso neu geregelt, wie Teile der Zeichensetzung.
Es bedurfte zweier weiterer Reformen, bis sich zumindest ein wenig Ruhe in Sachen Rechtschreibreform einstellte. In meinen Augen eine völlig unberechtigte Ruhe, da die Diskussion um die Rechtschreibreform eine Seite des schriftlichen Ausdrucks in den Blick zurück geholt hat, die vorher weitgehend unberücksichtigt blieb, eine Seite, die sogar das Bundesverfassungsgericht und den Deutschen Bundestag beschäftigt hat. Der Bundestag beschloss 1998 unter anderem folgenden Absatz:
„Der Deutsche Bundestag ist der Überzeugung, daß sich die Sprache im Gebrauch durch die Bürgerinnen und Bürger, die täglich mit ihr und durch sie leben, ständig und behutsam, organisch und schließlich durch gemeinsame Übereinkunft weiterentwickelt. Mit einem Wort: Die Sprache gehört dem Volk.“
Es gibt also grundlegende Übereinkünfte, aber die ständige Kulturkritik an der Sprachentwicklung – ich kann mich solcher kritischer Äußerungen selbst auch nicht enthalten! – muss ihre Positionen begründet in den Dialog einbringen, um aus organischen Entwicklungen heraus an gemeinsamen Übereinkünften mitzuwirken.
Es geht im Rahmen der Beschäftigung mit Sprache und deren Verschriftlichung also um eine Reflexion der Sprachentwicklung, die es zu verstehen und gegebenenfalls auch zu kritisieren gilt, die aber von noch so gut begründeter Kritik kaum aufzuhalten ist.
Dabei macht es einen großen Unterschied, ob man sich in einen reflexiven Dialog über Sprache einlässt und auch die Varianten im (schrift)sprachlichen Kontext berücksichtigt oder ob man für sich selbst eine Definitionsmacht in Anspruch nimmt, die zum Beispiel (amtlich zugelassene) Varianten ausschließt oder ob man sich der reflexiven Sprachbeobachtung stellt.
Die Auseinandersetzung um diese Fragen hat jetzt neue Nahrung bekommen. Auf der einen Seite steht die fünfundzwanzigste Auflage des Dudens zur deutschen Rechtschreibung, die nur drei Jahre nach der vierundzwanzigsten Auflage erschienen ist, auf der anderen Seite steht der Klettverlag, der unter dem Markennamen „Pons“ nun, vor allem durch sein für den Nutzer kostenfreies Onlineangebot zur deutschen Rechtschreibung, einiges an Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, insbesondere auch deshalb, weil „Pons“ gezielt die Nutzer des Angebots zur dessen Weiterentwicklung heranziehen will.
Das sind auf den ersten Blick Kleinigkeiten. Immerhin bietet „Duden“ (gegen Bezahlung) einen umfassenderen Dienst an, der auch Wortdefinitionen etc. enthält und außerdem einen „Korrektor“, der die von der Dudenredaktion als sinnvolle Schreibvarianten in der geschriebenen Alltagssprache durchaus durchzusetzen in der Lage sein könnte.
Der Vorteil eines Programms, dass einigermaßen zuverlässig Schreibfehler in Texten findet, ist die Vorstellung, dass in der großen Verunsicherung, die die Rechtschreibreformen der vergangenen Jahre ausgelöst hat, auf diesem Wege zuverlässig Sicherheit gefunden werden könnte. Der Nachteil eines Korrekturprogramms ist, dass die Illusion entsteht, man müsse über Fragen der Rechtschreibung nicht mehr nachdenken, da das ja andere für einen übernehmen, die zudem noch auf die Sprachentwicklung schauen und regelmäßig neue Worte in ihren Wortschatz aufnehmen.
Dabei wird allerdings folgendes vergessen:
„Nur für diejenigen Personen, die zum Staat oder juristischen Personen des öffentlichen Rechts in einem Sonderrechtsverhältnis stehen (Beamte, Richter, Soldaten, Studenten, Schüler), ist die Rechtschreibung einschließlich reformierter Regeln durch Verwaltungsvorschrift bindend.” (Quelle: Wikipedia)
Dies entspricht zwar nicht dem Umgang mit Rechtschreibung im Alltag, ist aber durchaus bemerkenswert, insbesondere auch deshalb, weil Verlage und Zeitungsredaktionen im Rahmen der Rechtschreibreform teilweise Hausregeln aufstellten, denen die Mitarbeiter im Rahmen von Publikationen zu folgen haben, die aber teilweise den amtlichen Regelungen zuwider liefen. Und außerdem habe Schriftsteller Rechtschreibung und Zeichensetzung schon immer als Mittel des Ausdrucks benutzt und für ihre Zwecke verändert.
Dennoch ist es nach wie vor üblich, dass die orthographische Korrektheit von Texten an den amtlichen Regelungen bzw. noch viel stärker an den Vorgaben des Dudens gemessen wird. Das wird einfach erwartet und deshalb ist es durchaus sinnvoll, dass ich als Lehrer im Kontext von Schule gezwungen bin, mich an diese Rechtsvorschriften zu halten. (Was ich in einem privaten Blog wie diesem hier mache, ist davon übrigens völlig unberührt!)
Doch spätestens in der Oberstufe wäre der Zeitpunkt gekommen, neben die Fähigkeit des Schreibens gemäß der amtlichen Regelungen Reflexionen über Sprachentwicklung und die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks durch Varianz und Abweichung von amtlichen Regelungen in den Blick zu nehmen.
Dies schreibe ich im Konjunktiv, denn leider beobachte ich eine sehr starke Tendenz zu einer großen Beschränktheit des sprachlichen Ausdrucksvermögen bis hin zu Abiturarbeiten, die auch Auswirkungen auf die Reflexionsfähigkeit (über Sprache) hat. Diese Tendenz drückt sich unter anderem in folgenden Phänomen aus:
- Das „richtige“ Schreiben gemäß der amtlichen Regelungen fällt Schülerinnen und Schülern häufig schwer, was auch mit der Verwirrung zu tun hat, die durch das Hin und Her der Reformen entstanden ist. Die mit der Reform verbundenen Ziele einer Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung wurde meines Erachtens nicht erreicht.
- Individuelle Sprachentwicklung hat mit der praktischen Auseinandersetzung mit Sprache zu tun. Hier hat Schule nur begrenzte Möglichkeiten, da sie private Lektüre, die über schulische Pflichtlektüren hinaus geht, nicht erzwingen kann. Schule kann zwar versuchen, Lust auf Bücher und Zeitungen (auch in online verfügbarer Form) zu machen, hat aber keine Garantie, dass dies gelingt.
- Aus 2. erklärt sich für mich, dass der Wortschatz, über den Schüler und Schülerinnen am Ende ihrer Schulzeit verfügen, bei weitem nicht so groß ist, wie er meiner Meinung nach sein könnte. Für mich steht im Augenblick die Frage im Raum, ob es nicht auch im Deutschunterricht sinnvoll sein könnte, Vokabelhefte zu führen und die Kenntnisse von im Unterricht eingeführten Wörtern auch zu überprüfen. Die Bedeutung des Wortschatzes liegt für mich vor allem darin, dass mit dem Wortschatz auch die Fähigkeit zur differenzierten Reflexion von Sachverhalten verbunden ist. Anders ausgedrückt: Bildung hat für mich mit der Fähigkeit zu tun, möglichst eigenständig reflexiv mit Wirklichkeit umzugehen, die zu erfassen aber auch entsprechende Ausdrucksmöglichkeiten erfordert. In den Naturwissenschaften und der Mathematik sind es die Formeln und Formelsammlungen, die einen solchen Ausdruck ermöglichen; in der Sprache ist es der Wortschatz, verbunden mit der Fähigkeit, grammatikalische Strukturen und deren Möglichkeiten für den Ausdruck zu nutzen.
- Sprachlich bedingte Vereinfachungen von Sachverhalten haben gesellschaftliche Auswirkungen, da sie zur Manipulation bzw. zur Reduktion von komplexen Zusammenhängen genutzt werden können. Das ist vor allem in Zusammenhängen von Politik und Werbung ein bemerkenswertes Phänomen. Wer hier „mündige Bürger“ haben will, muss die Reflexionsfähigkeit auf sprachlichen Ausdruck und die Geltungsansprüche von Aussagen hin fördern.
- Dazu gehören auch die unter 3. schon angesprochenen grammatikalischen Fähigkeiten, die einen wesentlichen Bestandteil des sprachlichen Ausdrucks ausmachen. Meiner Beobachtung nach gibt es in schulischen Kontexten gerade in diesem Bereich viel zu tun – und zwar bereits in Bereichen wie dem grammatikalisch einigermaßen einer Sachen angemessenem Satzbau.
Wer aber definiert, was angemessen ist? Die reine Korrektheit gemäß Duden, Wahrig oder jetzt auch Pons ist es nicht. Die amtliche Regeln, denen ich als Lehrer verpflichtet bin, legen die Grundlagen, um sprachlich so weit zu kommen, dass der Umgang mit Sprache reflexiv werden kann, aber ob diese Regeln immer eine angemessene Auseinandersetzung mit einem Gegenstand bzw. mit einem Ziel des eigenen sprachlichen Ausdrucks ermöglichen, wird bereits dadurch in Frage gestellt, dass es sich ausschließlich um amtliche Regelungen der Schriftsprache handelt. Würde jeder und jede so sprechen, wie es die amtlichen Regelungen verlangen, bekäme der mündliche Ausdruck etwas ziemlich künstliches und die organische Entwicklung der deutschen Sprache wäre mit der amtlichen Festlegung, die bis zur nächsten Reform gelten, nur sehr eingeschränkt möglich.
Wer also hat die Definitionsmacht darüber, was korrekte Schreibung im Deutschen bedeutet? Nun, wenn es um die korrekte Schreibung geht, dann hat diese Definitionsmacht die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung. Geschichtlich bedingt hat der „Duden“ bezüglich Definitionsmacht nach wie vor ein gewichtiges Wort mitzusprechen, auch wenn sein Einfluss in den vergangenen Jahren wohl abgenommen hat. Thomas Steinfeld bringt dies in der Süddeutschen Zeitung wie folgt auf den Punkt:
„Der Verlust an Autorität [des Dudens – TL] ist vor allem darin begründet, dass in der Verwirrung, die von der Reform der Rechtschreibung zurückgelassen wurde (und wird), das Bewusstsein für verbindliche Schreibungen deutlich beschädigt wurde (wird).”
Die Frage nach der Definitionsmacht über Sprache muss ich aber ganz anders beantworten, wenn es um den angemessenen Umgang mit Wirklichkeit geht, die in Sprache ausgedrückt werden soll. Die Dichter haben es von jeher vorgemacht, wenn sie vor allem im formalen Bereich, aber auch im Ausdruck, Wege gingen, die die Zahl der Fehler im schulischen Kontext und den dort vorgegebenen Regeln ins astronomische steigen lassen würden (z.B. im Rahmen der Konkreten Poesie oder auch in Werken wie Joyces „Finnegans Wake” und Reinhard Jirgls eigenständiges Zeichensystem)
Die Definitionsmacht bezüglich korrekten und angemessenen Ausdrucks ist also unterschiedlich: Die Korrektheit bestimmen amtliche Regeln (und anerkannte Wörterbücher); die Angemessenheit des Ausdrucks bezogen auf einen Dialog mit der Wirklichkeit aber wird von der Sache und der Person bestimmt, die im Rahmen ihrer persönlichen Begegnung mit der Wirklichkeit Ausdrucksformen sucht, die Wirklichkeit in einem System von Zeichen auszudrücken vermag. Da kann es dann durchaus sein, dass amtliche Regelungen und kommerzielle „Korrektoren” eher kontraproduktiv sind und der Satz, dass die Sprache dem Volk gehöre noch einmal anders gefasst werden muss: Die Sprache gehört demjenigen, der in ihr in die Auseinandersetzung und den Dialog mit der ihn umgebenden Wirklichkeit tritt.
Um eine solche eigene Sprache entwickeln zu können und in ihr dennoch kommunikationsfähig zu bleiben, stellt sich für mich die Frage, was dann sprachliche Bildung ist, die ja eben über Orthographie hinaus geht, will sie Bildung im Sinne der Fähigkeit sein, eigenständig Welt zu gestalten. (Dank an Andrea Mayer-Edoloeyi alias thematisch) Was könnte das für den Gang schulischer Sprachbildung bedeuten?:
- Schule lehrt Schriftsprache. Ein solches Lehren ist nur entlang verbindlicher Regeln möglich, an die sich Lehrende im Unterricht nicht nur deshalb zu halten haben, weil sie dazu verpflichtet sind, sondern auch, weil solche Regeln den sicheren Rahmen bilden, in dem das Erlernen von korrekter Schriftsprache überhaupt erst möglich ist. Das Überschreiten der Grenzen von korrektem zum angemessenem Ausdruck – mir ist natürlich bewusst, dass diese Grenze fließend ist bzw. oft gar nicht so strikt existiert und die Trennung in diese beiden Bereiche im Kontext dieses Artikels vor allem eine analytische ist, die einem Phänomen angemessen zu begegnen versucht – ist ein Schritt, der das Beherrschen der verbindlichen Regeln voraussetzt.
- Schule arbeitet gezielt an der Entwicklung des Wortschatzes. Gezieltes Arbeiten bedeutet hier nicht nur, dass alleine im Unterricht die Bildung des Wortschatzes wichtig wäre, sondern auch die Beratung der Erziehungsberechtigten bezüglich Leseförderung, an der sich Schule wiederum im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbstverständlich beteiligt.
- Schule arbeitet gezielt am Ausdrucksvermögen der Schülerinnen und Schüler, wobei auch Formen des kreativen Schreibens eingesetzt werden. Dieser Punkt hat für mich mit der Beobachtung zu tun, dass viele Schüler und Schülerinnen beim Schreiben erzählender Texte zu einem weit besseren Ausdruck in der Lage sind als er dann in Klassenarbeiten wiederzufinden ist. Wenn dem so ist, steht die Frage im Raum, wie die vorhandenen Ausdrucksfähigkeiten für z.B. interpretierende Texte für die Schülerinnen und Schüler nutzbar gemacht werden können.
- Schule arbeitet zumindest auf ein Mindestmaß an Reflexionsfähigkeit über Sprache hin. Hier ist bei längeren Schulzeiten, wie bspw. im Gymnasium oder der gymnasialen Oberstufe an Gesamtschulen, sicherlich mehr möglich als an Haupt- und Realschulen. Ziel muss es sein, dass dies sehr ambitioniert ist, weiß ich, zumindest in Ansätzen aufzuzeigen, dass ein angemessener Ausdruck gegebenenfalls manche Freiheiten gegenüber amtlich korrektem Ausdruck mit sich bringt.
Bezogen auf die Debatten der Sprachdidaktiken in den letzten Jahren, sage ich nichts Neues. Ich schreibe aber bewusst nicht, dass nur oder vor allem der Deutsch- oder Sprachunterricht den genannten Aufgaben verpflichtet ist, sondern die Schule in ihrer Gesamtheit hat hier einen Bildungsauftrag, der weit über formale Korrektheiten hinaus geht! Auch in z.B. gesellschaftswissenschaftlichen oder künstlerischen Fächern geht es um Formen des (sprachlichen) Ausdrucks. Ja, selbst in Fächern, deren Ausdrucksmittel eher in Formeln naturwissenschaftlicher und mathematischer Art liegen, geht es um die Frage, wie ein Sachverhalt, ein Phänomen, ein Teil der uns umgegbenden Wirklicheit ausgedrückt werden kann.
Zu diesem Thema verweise ich auf den Text Politdeutsch. Mit etwas Humor geht s besser.
http://ostendfaxpost.redio.de/text/text7.html#Politdeutsch
Danke für den Kommentar. Mein Problem damit: Eine Behauptung wird aufgestellt. „Mit etwas Humor geht s besser“. Eine Begründung für diese Behauptung oder gar ein Bezug zum kommentierten Artikel wird nicht hergestellt. Behauptungen ohne Begründung sind Urteile. In der Regel handelt es sich um Werturteile. Werturteile ohne Bezugsrahmen, ohne Kriterien, die sie im Rahmen des Deutungshorizont des Urteilenden verortbar machen, sind argumentationsfrei. Argumentationsfreiheit trägt Geltungslosigkeit mit sich herum.
Dies gilt für alle Urteile ohne Begründung. Dies gilt auch für rein positive Werturteile. Urteile bedürfen immer der Begründung. Hier fehlt eine solche. Aber das schrieb ich ja schon.