„Stiftung Lesen“ – (Kritische) Beobachtungen eines Deutschlehrers

Die „Stiftung Lesen“ hat das Ziel „Lesefreude [zu] wecken, um Lesekompetenz zu vermitteln“. Dieses Ziel finde ich gut, dieses Ziel begrüße ich und es gibt mit Sicherheit viele Projekte dieser Stiftung, die dazu beigetragen haben, jungen Menschen Lust am Lesen zu vermitteln.

Dennoch beobachte ich, dass ich in sehr vielen Fällen, wenn ich einen Brief der „Stiftung Lesen“ öffne, von dem Gefühl beschlichen werde, hier gehe es eher um die Förderung des Umsatzes von „Partnern“,  von Wirtschaftsunternehmen, die den Weg über die „Stiftung Lesen“ nutzen, um ihre Produkte zu vermarkten.

Heute war es wieder soweit. Unter dem Titel „Klasse(n) lesen!“ erhielt ich ein Schreiben, dem zwei Exemplare einer Broschüre beigefügt waren. In dem Schreiben werden mir zwölf empfehlenswerte Titel vorgeschlagen, „die besonders als Klassenlektüre für den Einsatz in den Stufen 8 und 9 geeignet sind”. Dieses Projekt werde, so wird in dem Brief offen gesagt, gemeinsam mit Partnern, den Verlagen Carlsen und Arena, durchgeführt. Lehrern wird angeboten, bis zu sechs kostenlose Prüfexemplare zu bestellen, es wird mitgeteilt, dass es sich um zwölf Titel handle, die speziell für diese Lesförderinitiative als Sonderausgaben zu je fünf Euro pro Buch zur Verfügung stehen und zu denen Unterrichtsmaterial bereit gehalten werde, das  den Prüfexemplaren kostenlos als CD beigefügt sei.

Soweit, so gut. Es ist schön, in dem unübersichtlichen (Jugend)Buchmarkt, Empfehlungen zu bekommen. Und wenn es dann auch noch Unterrichtsmaterial gibt, das ich nun nicht auf seine Qualität hin überprüft habe, weil ich die Prüfexemplare nicht angefordert habe, kann dies für Lehrende hilfreich sein.

Allerdings stellte ich bei der Durchsicht, ich hatte es schon erwartet, wäre aber positiv überrascht gewesen, wenn dies anders gewesen wäre, fest, dass ausschließlich Werke aus den Verlagen Carlsen  und Arena vorgeschlagen wurden und andere empfehlenswerte literarische Werke nicht auftauchten. Zudem gibt es aus jedem der beiden Verlagsprogramme genau sechs Empfehlungen.

Es ist das gute Recht eines jeden Verlages, die ihnen angemessen erscheinenden Wege des Marketing zu nutzen. Gerade zu Beginn des Schuljahres und dann noch einmal zum Halbjahreswechsel strömt die Post der Verlage mit der Zielgruppe „Schule“ ja sowieso wie ein Platzregen in den Briefkasten. Damit habe ich kein Problem, kann ich mir auf diesem Wege ja auch einen Überblick über Entwicklungen und Tendenzen auf dem Schulbuchmarkt verschaffen.

Wenn allerdings von der traditionell unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten stehenden „Stiftung Lesen“ immer wieder Aussendungen bei mir ankommen, die zumindest den Eindruck erwecken, dass ich sie mit besonders kritischer Distanz zur Kenntnis nehmen muss, die aktuelle Aussendung mit Unterstützung zweier Verlage ist nur ein Beispiel, dann ist das für mich Anlass genug, über das Angebot einer solchen Stiftung kritisch nachzudenken und gegebenenfalls auch Kritik zu formulieren, denn in anderen Aussendungen und bei anderen Projekte sind da auch schon mal Konzerne und Marken „Partner“, wie z. B. „Tesa“ (Tochterunternehmen der Beierserdorf AG) bei dem Projekt „Tesalino und Tesalina – ein tierischer Fall“ oder auch, was ich besonders prickelnd finde, bei dem Projekt „Frühstückszeit = Lesezeit“ von Stiftung Lesen und Nestlé Ceralien, in dem unter anderem auf die Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung hingewiesen wird, allerdings ohne Bewerbung konkreter Nestlé-Produkte. (Ich bin vor allem skeptisch, ob es sich nicht vielleicht doch um eine Imagekampagne handeln könnte, wenn ich z. B. diesen Bericht der Verbraucherzentrale NRW lese.)

Wie gesagt, die „Stiftung Lesen“ leistet an vielen Stellen sicherlich gute Arbeit, aber als Lehrer, der einen Bildungsauftrag hat, ist das kritische Hinterfragen von Arbeitsmaterialien auf Objektivität und Qualität Teil der Verantwortung, die mit diesem Beruf verbunden ist.

Bei Material der „Stiftung Lesen“ jedoch fühle ich mich jedes Mal doppelt herausgefordert, genau hin zuschauen, ob ich die von ihr oft ausgeübte Form des Marken-Placements auf Broschüren etc. für verantwortbar halte oder nicht.

Keine Frage: Die „Stiftung Lesen“ ist in dieser Hinsicht transprarent, trotz der Vorwürfe, die 2009 von DGB und VBE gegen ein Projekt der Stiftung erhoben wurden. So heißt es am Ende der Selbstdarstellung der „Stiftung Lesen“ auf deren Website:

„Dabei versteht sich die Stiftung Lesen als Plattform für die Verbindung von Wirtschaftsunternehmen mit modernen Formen der Leseförderung.“

Um es ganz klar zu sagen: Ich habe nichts gegen verantwortbare Kooperationen von Wirtschaftsunternehmen und Schulen oder Stiftungen. Diese Kooperationen sind in vielen Fällen sehr fruchtbar und tatsächlich von dem Gedanken getragen,  Schule bei ihrer Arbeit zu unterstützen, wenn es z. B. um Berufsfindungsprozesse, Praktika, Unterstützung von Schulprojekten etc. geht. Das einzige worum es mir hier geht ist das ungute Gefühl, das ich habe, wenn bei mir der, möglicherweise in vielen Fällen völlig unberechtigte und nur aufgrund meiner Unwissenheit in Bezug auf die Genese von Projekten aufkommende, Eindruck entsteht, dass es einigen Projekte der „Stiftung Lesen“ möglicherweise an Objektivität mangeln lassen könnten.

Der Pressesprecher der Stiftung sagte nach den Vorwürfen aus dem Jahr 2009:

„Der Vorwurf der Einseitigkeit sei ihm neu. Lehrerinnen und Lehrer schätzten „die objektive Aufbereitung der Unterrichtsmaterialien“, beteuert er.“

Doch kommen in dem Beitrag des WDR auch Lehrer zu Wort, die in Bezug auf das konkrete, dort kritisierte Projekt durchaus gerade diese „objektive Aufarbeitung“ nicht finden konnten.

Und so auch in der Broschüre zu dem Projekt „Klassen(n) lesen!“, die mir seit heute vorliegt. Direkt unter dem Titel heißt es dort „Empfehlenswerte Klassenlektüren für die Klassen 8 und 9“ und kleiner darunter „Ein Angebot der Verlage Arena und Carlsen in Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen“.

Möglicherweise mag es ja als Selbstverständlichkeit gelten, dass literarische Qualitätsmerkmale bei der Auswahl von Schullektüren nicht ganz unwichtig sind, doch die Begründung, warum es sich bei den ausgewählten Büchern dieser zwei Verlage um für dein Einsatz im Unterricht geeignete Werke handele, betont ein anderes Kriterium:

„Die Bücher sind besonders für den Einsatz im Unterricht der Klassen 8 und 9 geeignet. Wir haben die thematische Auswahl bewusst so getroffen, dass sich die Jugendlichen mit den Inhalten und Protagonisten identifizieren sowie sich in den Büchern wiederfinden können.“

Es wird der Schwerpunkt auf Themen gelegt. Natürlich spielen die Themen eine Rolle, wenn es um die Auswahl von Klassenlektüren geht. Aber die Themen allein reichen als Begründung für eine solche Auswahl eben nicht. Aber auch dann, wenn ich so tue, als ob dem so sei, gibt es eben auch aus anderen Verlagen empfehlenswerte Bücher. So habe ich den Eindruck, als ob in Zeiten der Unterrichtsplanung für das Schuljahr 2010/11, direkt am Schuljahresbeginn, zwei Verlage gezielt darauf aus sein könnten, Lehrerinnen und Lehrer, mit ihrem für diese Zielgruppe möglicherweise interessant scheinendem Angebot, bei der Auswahl der Klassenlektüren zu beeinflussen. – Ob das der Hintergrund dieser Aussendung der „Stiftung Lesen“ ist, weiß ich nicht, aber bei mir, rein subjektiv und ohne jeden Anspruch auf Objektivität, entsteht dieser Eindruck.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Arena und Carlsen sind gute Verlage, mit einer ganze Reihe fantastischer Bücher im Angebot, die bestens für die Lektüre mit Klassen geeignet sind.

Ich ärgere mich nur, dass die „Stiftung Lesen“ eine solche Broschüre produziert, die mir wie ein Auswahlkatalog der Verlage vorkommt, der mit dem Namen einer in vielen Fällen hoch angesehen „Marke“, nämlich „Stiftung Lesen“, versendet wird.

Es handelt sich bei dieser Aussendung nicht um „Schleichwerbung“, es ist alles transparent. Und doch fühle ich mich als Lehrer nicht ganz ernst genommen, wenn unter dem Label „empfehlenswerte Bücher“ Verlage und eben nicht Rezensenten oder andere nicht an Verlage gebundene Fachleute für Kinder- und Jugendliteratur zu Wort kommen. In dem Augenblick, in dem die Interessen von Einzelverlagen mit einer solchen Broschüre bedient werden, insgesamt kommen bei der „Stiftung Lesen“ natürlich auch viele andere Verlage vor, ich beziehe mich hier alleine auf diese eine Broschüre, die mich heute per Post erreicht hat, finde ich die Forumulierung „empfehlenswert“ als nicht objektiv, selbst wenn Mitarbeiter der Stiftung bei der Auswahl mit dabei gewesen sein sollten, was ich natürlich nicht weiß.

Meine Kritik geht noch einen Schritt weiter. In den Worten des Geschäftsführers der Stiftung, die der Broschüre vorangestellt sind, heißt es:

„Außerdem haben Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, an unserem Kreativwettbewerb „Buch sucht Leser!“ teilzunehmen. Hier sind besonders ausgefallene und erfindungsreiche Ideen der Jugendlichen gefragt, wenn es darum geht, ein Buch zu bewerben. Ob Trailer oder Anzeige, Jingle oder Podcast – der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt. Es gibt wieder tolle Preise zu gewinnen.“

Hätte hier doch wenigstens in etwa folgende Formulierung gestanden: „…wenn es darum geht, ein Buch, das natürlich aus einem anderen Verlag stammen kann, als die hier vorgestellten, zu bewerben“… Gut, ich will nicht überkritisch sein, der Leitfaden zum Wettbewerb ist – abgesehen von der Nennung der Verlage, die den Wettbewerb unterstützen, in der Überschrift – neutral gehalten und geht mit seinen Tipps in Ordnung.

Insgesamt ist mein Vertrauen nach vielen Zusendungen der „Stiftung Lesen“ mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem ich, wenn ich einen Brief der Stiftung in meinem Briefkasten finde, mich als erstes frage, welches Unternehmen denn dieses Mal besonders hervorgehoben wird. Meine erste Reaktion ist nicht: Oh, toll, endlich wieder tolle Tipps, wie Leseförderung gelingen kann.

Vielleicht bin ich der einzige, der diese Reflexe gegenüber Zusendungen der „Stiftung Lesen“ entwickelt hat. Dennoch habe ich die Zusendungen noch nicht abbestellt, auch wenn ich schon mehr als einmal kurz davor war, denn die Hoffnung, dass ich mal überrascht werde, scheint auch in diesem Falle zuletzt zu sterben.

Um Hinweise auf „empfehlenswerte Bücher“ zu bekommen, nutze ich allerdings andere Quellen, unter anderem:

Nachtrag:
Nachdem dieser Artikel fertig gestellt war, bin ich noch auf folgende Artikel gestoßen, die mein gesunkenes Vertrauen in die Arbeit der „Stiftung Lesen“ stützen: