Digitalisierung und das neue Schuljahr

*Dieser Text besteht mehr aus hingeworfenen Notizen, weniger hat er den Anspruch, ein komplexes Ganzes zu bilden. Das sollte man beim Lesen (vielleicht) im Hinterkopf haben.*

Einer der großen Vorteile des Digitalen ist dessen hohe Integrationskraft.

Einer der großen Nachteile des Digitalen ist dessen hohe Integrationskraft.

So etwas nennt man wohl (etwas pseudo-philosophisch) ein dialektisches Verhältnis. – Dieses Verhältnis lässt sich auch auf das Analoge übertragen: Einer der großen Nachteile des Analogen ist (unter anderem auf Reisen) der volle Koffer mit Musikkassetten, Schreibmaschine, Spiegelreflex- und Super-8-Kamera, einer kleinen Bibliothek. Einer der großen Vorteile des Analogen ist die mit ihm verbundene hohe Spezialisierung der Handlungen im Einzelfall, die jeweils mit  hoch spezialisierten Technologien verbunden sind.

Das Analoge führt zur Spezialisierung; das Digitale führt stärker zur Generalisierung.

Während Autoren früher »nur« ihre Texte zu verfassen hatten, die dann entweder, wie bei Doktorarbeiten häufig, als Typoskript 1 : 1 gedruckt oder aber von einem Textsetzer für den Druck vorbereitet wurden, müssen Autoren heute häufig druckfähige Skripte abgeben und folglich Ahnung von Textsatz und Typographie haben. (Haben sie aber oft nicht – und das sieht man dann leider auch. *seufz*)

Während ich diese Zeilen tippe, höre ich gleichzeitig mit dem Laptop Musik, würde ich informiert werden, wenn neue E-Mails eingingen, könnte ich meine Zeitleisten in den sozialen Medien verfolgen, mich mit der eingebauten Kamera des Laptops selbst filmen und selbstverständlich Bilder einfach in diesen Text einfügen.

Oh ja, ich erinnere Zeiten, in denen ich den Kassettenrecorder mit Musik bestückte, dann per Hand etwas schrieb, Fotos mit Fotoecken z. B. nach Reisen in den per Hand oder Maschine verfassten Text einfügte und neben mir unbeantwortete Briefe liegen hatte, die wirklich als Briefe eine Reise vom Absender zum Empfänger zurückgelegt hatten.

Wollte ich Bilder entwickeln, musste ich in die Dunkelkammer in der Schule, die aber nur für Schwarz-Weiß-Bilder geeignet war, Farbfilme erforderten einen ungleich größeren Aufwand. – Nun, heute geht mir kein Film mehr verloren, weil bei der Entwicklung jemand zur Tür hereingestürmt kommt, obwohl draußen das Licht brennt, welches darauf hinweist, dass gerade entwickelt wird. Auch das mache ich heute alles digital. Überhaupt scheint die Fotografie eine der Techniken zu sein, die am meisten von der Digitalisierung verändert wurden. Fotolabore hatten anscheinend keine allzu schlagkräftige Lobby, die sich um deren Fortbestand kümmerte.

Diese hohe Integrationskraft des Digitalen kann man negativ wenden und von den hohen Ablenkungspotentialen sprechen, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man mit einem Computer arbeitet. – Neben der Beherrschung der technischen Finessen von Programmen tritt in vermutlich höherer Notwendigkeit als in analogen Zeiten die Selbst-Beherrschung, die Selbst-Bestimmung: Lese ich Mails sofort wenn sie eingehen, obwohl ich gerade etwas lese oder am Schreiben bin? Springe ich alle paar Minuten auf einen Kanal meiner sozialen Medien? Oder gelingt es mir, eine (innere) Selbstdisziplin zu etablieren, die konzentriertes Arbeiten mit einer Maschine erlaubt, die, je nach Einstellung, auf unterschiedlichen Kanälen um meine Aufmerksamkeit buhlt?

Medienkompetenz hat als einen Teil diese Fähigkeit der Konzentration, der Engführung der Aufmerksamkeit. Medienkompetenz heißt dabei technisch, dass jemand weiß, wie er die Benachrichtigungen durch den Computer steuern kann: Lasse ich minütlich Mails abrufen, stündlich oder starte ich das Abrufen jeweils manuell? Habe ich auf meinem Smartphone wirklich auch den dienstlichen Account geschaltet, der mir dann womöglich am Samstagabend, wenn ich gerade ins Kino gehen will, noch eine »wichtige« Nachricht eines Kollegen anzeigt?

Sich im Gebrauch des Computers, des Smartphones, der Tablets, der Spielkonsole etc. selbst steuern zu können, ist sicher ein nicht unwesentlicher Teil dessen, was die Soft-Skills der Medienkompetenz auszeichnet. Medienpädagogik versucht u. a. Angebote zu entwickeln, um diese Art des Umgangs mit dem Computer zu lehren, indem z. B. eine hohe Fokussierung auf Projekte ermöglicht wird, wie sie u. a. bei Rap-Produktionen, Video-Bearbeitungen etc. erforderlich ist.

Eine Methode, Konzentrationsfähigkeit zu erzeugen, ist in den Augen vieler Pädagogen das Verbot: Da Smartphones ein hohes Ablenkungspotential in sich bergen und all das ermöglichen, was ich oben genannt habe, ist der einfachste Weg, um den Umgang mit ihnen zu regulieren, das Verbot.

Eine andere Methode ist die Restriktion dessen, was jemand mit einem Computer machen kann: Kinderschutzfunktionen, Seitenfilter, wie man sie an einigen Schulen findet etc. gehören in diese Kategorie. – Auf die gezielte und verantwortete Nutzung von digitaler Technologie abzielende Modelle spielen vor allem im schulischen Kontext an (zu) vielen Stellen nach wie vor keine Rolle.

Aber auch auf Lehrerseite, wenn ich nun einmal bei der Schule bleibe, ist der medienkompetente Umgang mit digitalen Technologien nicht einfach vorauszusetzen. Aber gerade dieser wäre nötig, wenn sie Kinder und Jugendlichen bei deren Mediensozialisation angemessen begleiten w/sollen.

Wenn nun das neue Schuljahr beginnt, stehe ich einmal mehr vor der Situation, dass ich selbst sehr viel mit digitalen Werkzeugen für mich arbeite und mit einem Schulträger zu tun habe, der mit Ganztagsbetreuung und Inklusion zur Zeit zwei andere wichtige Themen angeht und die Bereitstellung digitaler Infrastruktur –insbesondere in Form von WLan – dann eben nicht im gleichen Maße priorisiert. Und dennoch ist alles in der Schule präsent, was dieses Internet und diese Smartphones an Möglichkeiten bieten. Das Handynetz bringt das so mit sich.

Wieder einmal also ein Schuljahresbeginn, an dem die Möglichkeiten des digitalen Arbeitens im Kontext der schulischen Bildung für mich um keinen Deut weiter als im vergangenen Jahr gekommen sind, außer dass vermutlich noch ein paar mehr Schüler und Schülerinnen in den fünften Klassen über Smartphones verfügen.

Und doch werde ich im Laufe des Schuljahres mit anderen Kollegen Teil eines Pilotprojektes werden, in dem es ausdrücklich um ein sowohl didaktisch intensiv geplantes und durchdachtes als auch technisch anspruchsvolles Arbeiten im Unterricht gehen wird. Es wird sicher interessant werden, im Rahmen der PC-Infrastruktur, die ja vorhanden ist, diesen Piloten zu fahren. Das Gute dabei ist: Wenn das geplante Projekt unter den gegebenen Bedingungen funktioniert, dann wird es auch unter deutlich besseren Bedingungen laufen.

Wieder einmal wird im neuen Schuljahr über Handys an der Schule diskutiert werden. Wieder einmal werden Pro- und Contra-Argumente für unterschiedliche Umgangsformen ausgetauscht werden. Wieder einmal…

Und wie wird es gelingen, Jugendlichen den anspruchsvollen Umgang mit digitaler Technologie beizubringen, die so viele Möglichkeiten bietet, dass der aufgeklärte Mensch heute auch über die Kompetenz verfügen muss, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wenn es um die Regulierung im Umgang mit diesen Technologien geht? Wie kommen wir davon weg (vor allem) mit Verboten zu arbeiten, die eben nicht die Selbstbestimmung fördern, sondern fremdbestimmt sind?

Bislang baut man in Schulen dabei auf das Alter der Jugendlichen, baut darauf, dass mit zunehmenden Alter die Vernunft beim Umgang mit digitalen Endgeräten sich schon durchsetzen werde. Und so gibt es dann irgendwo einen Bruch, einen Punkt, an dem die Nutzung digitaler Endgeräte freigegeben wird. Und was machen die Jugendlichen dann mit den neu gewonnenen Freiheiten? Wie regulieren sie diese Freiheiten selbstbestimmt?

Wenn ich in andere Länder schaue, nimmt es mittlerweile abstruse Formen an, mit welchen Mittelchen und Wegen in Deutschland eine ernstzunehmende Gestaltung der Digitalisierung in den Schulen verzögert wird. Vor allem in Bildungskontexten erleiden wir die Digitalisierung mehr, als dass wir das Heft selbst in die Hand nehmen und endlich aktiv gestalten. Statt dessen haben wir so viele offene Fragen: Jugendmedienschutz z. B. ist etwas anderes als Filter zu schalten oder Smartphones zu verbieten. Genau genommen ist Jugendmedienschutz deutlich mehr als in Deutschland bislang getan wird.

Wie gehen wir damit um, dass Jugendliche früher als einst mit Pornographie in Kontakt kommen und sich Videos und Bilder zu ziemlich jeder Form von Gewalt und ethisch bedenklichen Handlungen anschauen können? Wie können wir mit der anderen Qualität, die Mobbing im Internet bekommt, umgehen? Und wie können wir gleichzeitig dafür sorgen, dass digitale Maschinen als Maschinen im Dienst des Nutzers erfahren werden, die dem Lernen dienen, die Arbeitsgeräte sind, ohne dass dabei die digitale Spielekultur verteufelt wird?

Schaut man genau hin, sind die Antworten nach wie vor von dialektischer Natur: Die einen wollen sehr restriktive Antworten bis hin zu Internetsperren, was den anderen eindeutig zu weit geht, weil an dieser Stelle eine Infrastruktur aufgebaut würde, deren Nutzung eben nicht nur in einem Kontext möglich ist, sondern auch zur Sperrung von eigentlich legalen, aber missliebigen Inhalten im Internet.

Wie sieht nun ein nicht aufgeregter, pragmatischer und kluger Weg aus, der zu einem verantwortbaren Umgang mit digitaler Technologie führt, ohne mit den sehr freiheitlichen (technischen) Strukturen des Digitalen grundsätzlich in einen Konflikt zu geraten?

Wenn nun das neue Schuljahr in Hessen beginnt, werden mich solche Fragen, mit denen ich mich in den Ferien eher theoretisch befasse, erneut durchgängig praktisch beschäftigen. Ich werde diese Fragen Lehramtsstudierenden an der TU Darmstadt, an der ich seit dem vergangenen Sommersemester einen Lehrauftrag im Bereich der Mediendidaktik habe, vorlegen und mit ihnen überlegen, wie Modelle gelungener Mediendidaktik und -pädagogik aussehen können.

Und dann ist da noch die Lehrerfortbildung. Neben Veranstaltungen, die ich unter anderem in Köln und Berlin besuchen werde, werde ich mit meinem Kölner Kollegen André Spang weiter im Bereich der selbstorganisierten professionellen Fortbildung Projekte begleitet und neu entwickeln. Auf Twitter wird es weiter den EDchatDE geben. Und die Idee, wie man neben dieses schnelle Format ein Format stellen kann, das thematisch mehr in die Tiefe geht, ist so weit gediehen, dass ich vermute, dass wir, so die schulische Arbeit das zulässt, in diesem Schuljahr an die Umsetzung gehen werden. Denn wie gesagt: Auch Lehrkräfte müssen Medienkompetenz erst lernen – und am meisten lernen aus den Projekten womöglich diejenigen, die sie konzipieren und langfristig begleiten.

Eines ist sicher: Dieses Schuljahr wird für mich in vielerlei Hinsicht im Bezug auf Fragen der Digitalisierung noch spannender als vorhergehende, weil ich einerseits weiter mit der Diskrepanz zwischen digitalen Alltagsgeräten und deren wenig ausgeprägte Nutzung im schulischen Kontext zu tun haben werde und andererseits in Projekte involviert bin, die letztlich eine hohe Integration dieser Technologie in den schulischen Alltag voraussetzen. Metaphorisch gesprochen: ich sitze in diesem Schuljahr noch mehr zwischen den Stühlen von Digitalisierung und deren restriktiver Handhabung als in den vergangenen Jahren. Dieses Spannungsverhältnis wird sicher anregend wirken.