Handschrift und Digitalisierung – Individualität und Berechenbarkeit

Gleichförmigkeit zum Zwecke besserer Lesbarkeit, empfindliche Oberflächen aus Metall und Glas, die alle gleich aussehen, und eine Praxis der Fotografie, die auf das Selbstbildnis hin ausgerichtet ist, wobei die Selbstbildnisse in eigenartiger Weise einander ähneln, da mit der gleichen beschränkten Zahl an Filtern bearbeitet, sind einige Indizien für den Prozess zunehmender Indifferenz. Alles wird auf Effizienz getrimmt und muss irgendwie digital abbildbar, somit aber auch verarbeitbar sein. 

Auf der anderen Seite ist die persönliche Handschrift persönlicher geworden. In einer Zeit, in der die Handschrift im beruflichen Leben und im Alltag kaum noch eine Rolle spielt, wird eine möglichst lesbare, für die Führung von Geschäftsbüchern notwendig eindeutige Handschrift, unbedeutend. Sie gewinnt also an Freiheit bezogen auf die Möglichkeiten, von der schreibenden Hand gestaltet zu werden. Oder aber sie drückt in ihrer unbeholfenen Krakelei ihre eigene Irrelevanz aus. Die einen pflegen ihre Handschrift und stürzen sich auf die kalligraphischen Techniken des »Hand Letterings«; die anderen sind nach kürzester Zeit an der Schmerzgrenze, da die Hand beim Schreiben nie die Lockerheit gewinnt, die sie bei einem geübten Schreiber hat. 

Oft ist die Schule der einzige Ort an und für den Menschen noch in größerem Maße handschriftlich aktiv sind. 

Das Bild dort aber ist uneinheitlich: Es gibt eine nicht kleine Zahl an jungen Menschen, die sich sehr bewusst mit ihrer Handschrift befassen, mit dieser experimentieren, nach ihrer persönlichen Form des Ausdrucks suchen. Auf der anderen Seite eine ebenfalls nicht kleine Gruppe, der jeder Strich mit dem Stift gegen den Strich geht und deren Handschrift schwerfällig, undifferenziert oder als zweite Seite dieser Medaille gestochen scharf daher kommt, ohne dabei ein persönliches Schriftbild zu zeigen. 

Ein ähnlich diverses Bild bei den Schreibgeräten: Die einen schreiben immer mit irgendeinem zufällig verfügbaren Kugelschreiber oder eben dem Schreibgerät, das im Mäppchen wenigstens noch funktionstüchtig ist; die anderen wählen ihr Schreibgerät sehr bewusst, nutzen ein Schreibgerät über Jahre. Manchmal sind das Füller – und dann gibt es Jugendliche, die irgendwann mit einem besonderen Füller schreiben, den sie von den Eltern geschenkt bekommen haben, der vielleicht sogar ein Füller ist, den die Eltern selbst einmal benutzt haben. 

Manche Eltern kommunizieren nach wie vor tatsächlich handschriftlich mit Lehrkräften in der ganzen Bandbreite von Möglichkeiten, die es da gibt. Neben Briefkarten aus handgeschöpftem Büttenpapier mit persönlicher Prägung des Absendernamens oder der Initialien, die erkennbar mit Füller beschrieben sind, gibt es die achtlos aus Blöcken gerissenen Blätter, die vielleicht sogar noch in der Mitte halbiert werden, auf denen in unbeholfener Schrift eine Nachricht an die Lehrkraft steht. Schließlich gibt es die Geschäftsbriefe, bei denen manchmal der Eindruck entsteht, eine Assistenzkraft hätte diese für ein Elternteil verfasst und in der Unterschriftenmappe zur Abzeichnung vorgelegt. 

Trotz allem Hang zur digitalisierten und digitalisierbaren Einförmigkeit in Sachen Schrift und deren Gestaltung, haben sich nach wie vor Biotope gehalten, denen man fast jenes Schild verpassen will, das bei den wenigen wirklich wertvollen Naturlandschaften darauf hinweist, dass diese unter Natur- oder Landschaftsschutz stehen. 

Ähnliches gilt für Papier. Die digitale Nachricht kennt nicht die subtil über das Papier, auf dem die analoge Nachricht daher kommt, transportierten Metabotschaften.  Ein Blatt aus dem Collegeblock kann mit dem hochwertigen Briefpapier einer englischen oder italienischen Papiermühle kaum mithalten. Ein Briefumschlag kann auf das Minimum reduziert oder aber üppig mit Seidenfutter ausgestattet die Gesamtgestaltung der Nachricht wirkungsvoll unterstreichen. 

Der Computer kann viel, kann auch eine gewissen Vielfältigkeit abbilden, stößt aber dort an die Grenzen, wo es um die Vielfältigkeit der Sinneseindrücke unmittelbarer Art geht. – Ein Tablet fühlt sich immer wie ein Tablet an und egalisiert damit jede Nachricht, die auf ihm ankommt. Gleiches gilt für jedes digitale Gerät, das die Oberfläche und den Zugang zu binär arbeitenden Codes gibt, die alles, was auf dem Bildschirm angezeigt oder von den Lautsprechern ausgegeben wird, berechnen. 

Dass auch digital verfasste Texte und deren Präsentationen viel differenzierter sein können, als das heute oft der Fall ist, hat jede*r erlebt, der in den Nullerjahren online war, in denen viele Websites nicht nur privater Natur tatsächlich sehr individuell gestaltet waren. In Blogs ist diese individuelle Gestaltung des Umfelds, in dem Inhalte eingebettet sind, bis heute teilweise beobachtbar. Die große Indifferenz hingegen herrscht bei Facebook, Twitter, Instagram und Co. 

Vielleicht ist es ein paar Minuten wert, darüber nachzudenken, ob die radikale digitale Entpersonalisierung des individuellen – weil analogen – Ausdrucks, die diesen fast zum Verschwinden gebracht hat, auch dort anzutreffen ist, wo jede Nachricht auf sozialen Plattformen hochgradig genormten Vorgaben angepasst wird, um prozessiert werden zu können, während gleichzeitig eine große Zahl an Metadaten abgefangen und in das System eingespeist werden, die den Nutzer dieser Medien lesbar machen. 

Digitale Technologien im Kontext des Plattform- oder nach Shoshana Zuboff des »Überwachungskapitalismus« ((Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt  am Main / New York (Campus Verlag) 2018)) entdifferenzieren, egalisieren, lassen die Fake News gleichrangig neben Qualitätsjournalismus erscheinen, ohne diese unterschiedlich zu bewerten. 

Die Plattformen, auf denen sich Milliarden von Menschen tummeln, haben etwas von Tom Riddles Tagebuch in Harry Potter, in das jemand schreiben konnte, die Tinte wurde sofort vom Tagebuch aufgesaugt, und Antworten von Tom (= Voldemort) bekam. Jeder Eintrag, der einer Plattform wie Facebook anvertraut wird, wird nicht nur als Nachricht angezeigt, sondern bis aufs letzte – bezogen auf seine Metadaten – ausgesaugt, damit die Plattform dann darauf »antworten« kann, indem all diese Metadaten genutzt werden, um Werbung zu platzieren, Nachrichten im Newsfeed anzuzeigen, die dich interessieren oder vielleicht auch mal manipulieren können. 

Plattformen nutzen die »Magie« der Algorithmen, die aber nur funktioniert, wenn sich das Individuelle nur noch auf die Inhalte bezieht, bei der Form der Präsentation aber kaum noch eine Rolle spielt. In einem Internet, in dem es gang und gäbe wäre, dass einzelne Menschen oder Interessengruppen individuelle Webauftritte nicht nur gestalten, sondern auch noch aktiv untereinander vernetzen, ohne eine Vermittler wie Facebook oder Twitter oder Tumblr oder Instagram etc. dazwischen, wäre die Nutzbarkeit und Manipulierbarkeit der Nutzer dieses Mediums deutlich komplizierter. 

Es ist ein Unterschied, ob jemand Joomla, WordPress, Drupa, Typo 3, Ghost etc. benutzt. Es ist ein Unterschied, ob man sich eines CMS bei einem Anbieter oder selbst gehostet bedient. Und dann gibt es noch die individuell programmierten Websites, die eine noch größere Individualität zeigen, die aber in der Entwicklung mindestens zeit-, wenn nicht sogar kostenintensiv sind. 

Die Vielfalt, die im Analogen vorhanden ist, kann durchaus digital abgebildet werden. Dazu bedarf es aber Nutzer, die in der Lage und willens sind, ihre eigene Webpräsenz zu gestalten und zu pflegen. Eine digitale Welt, in der das »Surfen« wieder eine größere Rolle spielen würde, weil es keinen auf die angenommenen Bedürfnisse des Nutzers ausgerichteten News-Feed gibt, begänne wieder, die Vielfalt der Menschen stärker abzubilden, die sich im Internet bewegen, weil die Angebote tatsächlich auch von ihrer Form her Ausdruck der hinter ihnen stehenden Individuen wäre. An die Stelle der Indifferenz träte Wiedererkennbarkeit des Differenzierten. 

Sicher, eine nahezu unlesbare Handschrift fordert heraus, sie zu entziffern; zumindest Lehrer*innen können dem oft nicht entgehen. Dies mag ärgerlich, anstrengend, zeitraubend sein; andererseits ist eine solche Handschrift aber auch ein prophetischer Akt, der aussagt, was wir heute wieder brauchen: Mehr Widerstand gegen allzu leichte Einordnung in Algorithmen, die unsere brav in ihr entdifferenziertes und entdifferenzierendes Umfeld eingegebene Daten – vor allem als Ware betrachten.

Wir brauchen mehr Akte des Widerstands durch eine Vermeidung der allzu einfachen Vereinnahmung unserer Persönlichkeit im Netz. Wir brauchen individuell gestaltete Websites ebenso wie die Erinnerung an die Vielfalt von Schrift in den Momenten, in denen wir bewusst gestalteter oder wenig lesbarer Handschriften begegnen. Der Impuls sollte nicht sein, diese Schriften von deren Produzenten abtippen zu lassen, um sie wieder stromlinienförmig zu bekommen. Vielmehr bedarf es einer offenen Rückmeldung zu den Problemen der Lesbarkeit und der Ermutigung, dennoch eine eigene (lesbare) Handschrift zu entwickeln und zu pflegen, während man aber auch in der Lage ist, die mit Plattformen online verbundene Gleichförmigkeit, welche Differenz vermeidet, in ihren Chancen, Grenzen und auch Gefahren für die differenzierte Betrachtung der Welt zu reflektieren und zu nutzen. 

Beitragsfoto: Pixabay (Pezibear) CCO