Über Klassenfotos

Im Bruchteil von Sekunden entscheidet sich, welches Bild man für die nächsten Jahrzehnte abgibt. Das gilt für Schüler, das gilt für Lehrer. Vielleicht schaue ich als Klassenlehrer ja auch irgendwann vergilbt und deutlich einer anderen Zeit angehörend aus der Festschrift einer Schule, möglicherweise namenlos und mit einer Gruppe von Kindern oder Jugendlichen zusammen, die auch schon längst nicht mehr Kinder oder Jugendliche sind.

Klassenfotos wirken auf mich manchmal so, als sei extra für sie die Fotografie erfunden worden. Zumindest gab es bereits Ende des 19. Jahrhunderts anscheinend eine aufkommende »Tradition«, der folgend seitdem Jahr für Jahr Klassen mit ihren Klassenlehrern oder den zufällig gerade in der entsprechenden Stunde unterrichtenden Lehrern oder Lehrerinnen fotografiert und der Erinnerungskultur hinzugefügt werden.

Abgesehen von »Freundschaftsfotos«, auf denen Schüler und Schülerinnen sich in Kleingruppen mit ihren Freunden abbilden lassen, abgesehen von »Spaßfotos«, die teilweise zur Ergänzung der eher »offiziellen« Klassenfotos gemacht werden, hat sich an der Aufstellung der Klassen für das »offizielle« Bild nicht viel nichts geändert: In mehreren Reihen stehen die Schülerinnen und Schüler hintereinander, in Reih und Glied.

Ich erinnere mich noch, dass wir nach Größe sortiert standen. Der größte Schüler oder die größte Schülerin stand vom Betrachter aus gesehen in der letzten Reihe links, der kleinste Schüler oder die kleinste Schülerin stand in der ersten Reihe ganz rechts.

Heute wird – warum eigentlich sind Klassenfotos meist Farb- und so gut wie nie Schwarzweißfotos? – ein wenig auf die Farbzusammenstellung für das Foto geachtet. Es soll wohl ein harmonisches Ganzes dargestellt werden.

Die Technik hat sich verändert. Es werden digital mehr Bilder gemacht, aus denen der Fotograf dann Bilder aussucht, es gibt andere Möglichkeiten der Beleuchtung – aber nach wie vor stehen die Schülerinnen und Schüler in Reih und Glied, der Lehrer oder die Lehrerin meistens rechts oder links am Rand, selten mitten unter den Schülern und Schülerinnen.

In dieser Gleichförmigkeit sind Klassenfotos Zeitdokumente, die, gerade weil sie sich so wenig verändert haben, Einblicke in gesellschaftliche und zeithistorische Entwicklungen geben können, die ihre Spuren auf den Bildern hinterlassen haben: Wurden Jungen und Mädchen getrennt oder gemeinsam unterrichtet; ist die Kleidung eher bäuerlich oder tragen die Kinder bürgerliche Mode; wie viele Kinder trugen Uniformen, die sie zwischen 1933 und 1945 als Mitglieder faschistischer Jugendorganisationen zeigen? Ab wann findet man Lehrerinnen auf Klassenfotos? Wie groß waren die Klassen zu unterschiedlichen Zeiten? (Und wie lange sieht der Hintergrund, vor dem die Fotos unterschiedlicher Jahrgänge gemacht wurden, eigentlich gleich aus? Wurde mal renoviert oder investierte man lange nichts in die Pflege eines Schulgebäudes? – Auch solche eher beiläufigen Fragen können, wenn über längere Zeit Klassenfotos dokumentiert sind, mit solchen Bildern beantwortet werden.)

Was Klassenfotos nicht sind, verbindet sie mit anderen Bildern aus dem Bereich der abbildenden Erinnerungsfotografie, die weniger einen keinen künstlerischen Anspruch verfolgt.

Es geht um Bilder für die Erinnerung, um Bilder, die vielleicht weitere Erinnerungen an Erlebnisse mit den Abgebildeten aktivieren können, falls man zu einer Klasse gehörte. Diese Funktion haben Bildern in der Mnemotechnik, der Kunst des gezielten Erinnerns, schon seit Jahrtausenden.

Doch ohne solche Erinnerungen wirken Klassenfotos aus allen Zeiten eher distanziert und ohne großen individuellen Aussagewert, von den schon genannten zeithistorischen Implikationen einmal abgesehen.

Die Funktion als Bilder für die Erinnerung (der Abgebildeten) und der Dokumentation haben Klassenfotos über die Jahrzehnte gegen alle Tendenzen in der Kunst behalten. Sie sind so beständig, dass sie wohl kaum als Kunst bezeichnet werden können. – Aber wie sähen Klassenfotos mit künstlerischem Anspruch aus? Was würden Klassenfotos mit künstlerischem Anspruch wiederum über die Zeit sagen, in der sie gemacht wurden?  Hat sich ein Fotograf dieser Frage schon einmal genähert?