Im Übergang: Das Buch in Vergangenheit und Zukunft

In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, warum ich vielleicht doch nicht in zwei Welten lebt, wenn ich Bücher in gedruckter und digitaler Form schätze und nutze.

Die Zukunft des gedruckten Buches scheint in der Auswanderung seiner Inhalte in digitale Infrastrukturen zu liegen: Das digitale Buch ist in Sachen Zugänglichkeit und Platzbedarf jedem papiernen Exemplar überlegen. – Damit wird ein Massenmarkt von Lesern abgedeckt werden können, die Bücher so lesen, wie sie jemand liest, der sie in der Bibliothek ausleiht und dann wieder zurückgibt; mit dem Unterschied, dass diese Leser Bücher kaufen und besitzen wollen, auch dann, wenn sie ein Buch nur einmal lesen.

Es ist toll, ein paar meiner Lieblingsbücher immer dabei zu haben. Bei gedruckten Büchern ist das angesichts des Gewichts, das sie in der Papierversion haben, kaum möglich. – Aber noch gibt es einige meiner Lieblingsbücher gar nicht in digitalen Ausgaben und gerade die dazu gehörenden Lyrikbände werden vermutlich in absehbarer Zeit nur auf Papier verfügbar sein.

Nehme ich aber einen der Bände, die ich immer wieder lese, aus dem Regal und blättere in ihm, breitet sich ein ganz anderes Empfinden in mir aus, flammt meine Liebe für das Analoge, für das Papier, für seine Haptik und seinen Geruch wieder auf. – All die Lesespuren, die teilweise an mehrfache Lektüren mit unterschiedlichen Stiften und Markiertechniken erinnern, zeigen mir viel mehr, als die uniformen Anstreichungsoptionen in E-Books es vermögen, die gegenwärtig möglich sind: Mal nur mit Bleistift, dann die Bleistiftmarkierung noch einmal nachdrücklich mit Textmarker bei einem späteren Lesedurchgang intensiviert; mal mit Kugelschreiber oder Füller kurze Randnotizen hinzugefügt. Manche Seiten sind an der oberen Außenkante eingeknickt, damit ich sie besonders schnell finde.

Manche dieser Notizen stammen noch aus Zeiten vor dem Internet und in manchem Büchern, die ich antiquarisch erstanden haben, finden sich die Spuren vergangener Leser und Leserinnen.

Eine Übergangszeit zeichnet sich wohl dadurch aus, dass Neues präsent und relevant ist, aber noch nicht ganz klar ist, was mit den „alten“ Formen passiert. So imitierten die ersten Buchdrucke (Inkunabeln) noch Handschriften, bevor sich eine eigene Typographie für den Druck entwickelte und aus schwer transportierbaren Folianten Taschenbücher wurden. Dadurch ist die Handschrift weder im Alltagsgebrauch noch im Bereich der intellektuellen Durchdringung der Welt verschwunden, aber in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch präsent, da die Ergebnisse natürlich gedruckt erscheinen und zuvor digital erfasst werden.

Der Buchdruck hat die Lesegewohnheiten verändert und – im Zusammenhang mit der Aufklärung – die Leserschaft verbreitert, ohne dass sich die Inhalte ändern mussten.

Die Digitalisierung ist dabei, die Lesegewohnheiten zu verändern. Ob sie die Leserschaft noch einmal zu verbreitern vermag, sei dahin gestellt, aber die Digitalisierung vergrößert die Zahl der Autoren.

Was als Segen und als Demokratisierung angesehen werden kann, da die Filter der Redaktionen und Lektorate in vielen Fällen wegfallen und wir uns auch bei der Auswahl der Lektüre nicht mehr der „Leitung eines anderen“ (Kant) ausgeliefert sehen, sondern frei entscheiden können, ob wir uns z. B. an Empfehlungen des Feuilletons orientieren oder selbst auf die Suche gehen, kann auch als Fluch der Unübersichtlichkeit gesehen werden: Der Einzelne geht in der Flut der Information unter, die zudem an Redundanz kaum noch zu übertreffen ist.

Konnte man an den Bereicherungen, die der Buchdruck mit sich brachte, nur angemessen teilhaben, wenn man lesen konnte, so verlangt die Digitalisierung etwas, das heute schlagwortartig unter dem Begriff „Medienkompetenz“ zusammengefasst wird.

Die Kunst des Lesens von Büchern beruhte vor allem auf der Alphabetisierung, dem Lesen lernen; doch ist dieser Prozess nicht vorbei, wenn man alle Buchstaben beherrscht und in der Lage ist, mit ihnen Wörter zusammenzusetzen oder zu entziffern. Gerade sinnerfassendes Lesen zu lernen ist ein langer Prozess. Eigentlich hört man als Leser nicht auf, das Lesen vertieft zu lernen. Das gilt auch für das Lesen von Firmenbilanzen, Forschungsberichten und anderes spezialisiertes Lesen.

Die nun zu erlernende Kunst ist, angesichts der Verbreiterung der Autorenbasis und damit auch der verfügbaren Texte, die Kunst der Bewertung (Rezeption) von Texten (bzw. medial vermittelter Inhalte): Was lese / rezipiere ich? Was lohnt sich zu lesen / zu rezipieren? Welche Anzeichen finde ich, ob ein Autor als seriös einzustufen ist oder nicht?

Wie beim Erlernen des Lesens und die Entwicklung zum erfahrenen Leser oder zu erfahrenen Leserin, braucht die Entwicklung dieser „Kulturtechnik“ Zeit. – Als ich mein erstes Buch eigenständig las, las ich langsam, entzifferte ich jedes Wort, las ich den Text direkt ein zweites Mal, um beim zweiten Lesen dann den Sinn der Wörter vertieft zu erfassen.

Heute schlage ich ein Buch auf und bin in der Lage den Inhalt zu erfassen oder aber zu erkennen, dass ein komplexer, mir unvertrauter Gedankengang Zeit braucht, um ihn zu verstehen. – Die Basis der Anknüpfungspunkte wird von Leseerfahrung zu Leseerfahrung breiter, sodass Lesende von Buch zu Buch die Lesekompetenz erweitern können, so die Auswahl der Bücher eine gewisse Breite aufweist und z. B. nicht nur aus den Unterhaltungsromanen eine Autors oder eines Genres besteht.

Die „Kulturtechnik“ des Lesens im digitalen Zeitalter entwickelt sich erst noch. Noch ist die Omnipräsenz des Digitalen zu jung, um für sie schon in der Breite verfügbare Strategien verfügbar und verinnerlicht zu haben.

Wie beim Lesen der ersten Bücher tasten wir uns durch die Masse der Informationen, die das Netz bietet: Wir entziffern die Indizien, die auf Texte hinweisen, die zu lesen lohnen könnte und solche Hinweise, die als Signale zum Ausfiltern von Texten dienen.

Bislang waren vor allem Akademiker im universitären Forschungskontext damit befasst, Kriterien für die Bewertung von Publikationen zu entwickeln und anzuwenden, um sich in der Masse der Veröffentlichungen zurecht zu finden. Die Notwendigkeit zu dieser Bewertung wird nun Teil der Kompetenz, die jeder mündige Bürger im Netz braucht, weil er sich weit weniger auf die Filter von Redaktionen und Lektoraten beschränken kann und sollte, wenn der Prozess der Aufklärung hin zum Mut, sich des eigenen Verstandes „ohne Leitung eines andern zu bedienen“ (Kant), nicht in neuer Beliebigkeit untergehen soll.

Die neuen Mechanismen der Bewertung zeigen sich dann auch schon bei Texten, die nicht einmal im Internet entstanden sind, die aber mit Hilfe digitaler Technologien anders bewertet werden können, wie die Nachweise diverser Plagiate im Rahmen von Promotionsverfahren in den vergangen Jahren gezeigt haben. – Öffentlichkeit verändert sich im digitalen Zeitalter und damit verändern auch bislang übliche Filtermechanismen ihre Bedeutung.

Das ist ein dialektischer Prozess, in dem es aus Sicht der philosophischen Aufklärung Potentiale gibt, die Aufklärung mit digitalen Mitteln fortzuführen; in dem es aber auch antiaufklärerische Potentiale gibt, die zu mehr Überwachung und Bevormundung des Bürgers führen können. – Es sind häufig diejenigen, die sich eine solche präventive Überwachung wünschen, die die Unübersichtlichkeit des Internets in den Vordergrund stellen. – Wer die Rede vom mündigen Bürger aber ernst nimmt, dieser ist übrigens nach wie vor das Ziel von Erziehung u. a. in der Schule, entwickelt Strategien zur Entwicklung von Mündigkeit im Netz, einer Mündigkeit, die einerseits davon lebt, dass es mehr Autoren gibt, die aber auch in der Lage ist, Beiträge in ihrer Qualität zu beurteilen. Diese Kompetenz ist im Bereich der Wissenschaften vorhanden, so wie beim Aufkommen des Buchdrucks die Fähigkeit zu Lesen in den kleinen Zirkeln der Klöster und Universitäten vorhanden war. So, wie sich das Lesen als Fähigkeit verbreitete, gilt es nun, die Fähigkeiten zur Beurteilung und Filterung von Content zum Bestandteil der Grundbildung (aller Schultypen) zu machen.

Wenn ich ein Buch in die Hand nehme und die Spuren des Lesens in ihm sehe und deren Eigenwert gegenüber digitalen Formen des „Buchs“ erkenne; wenn ich mein Lesegerät für digitale Bücher nehme und fasziniert von dieser Möglichkeit des Mitführens und der Anstreichungen und Anmerkungen bin – dann ist das für mich ein Zeugnis zunehmender Verankerung in beiden Kontexten: Das gedruckte Buch als Kontext, aus dem ich komme und den ich nicht missen will; das digitale Buch als Kontext in den ich mich hinein bewege und den ich als Bereicherung erlebe.

Digitale Inhalte werden sich mittelfristig von analogen emanzipieren. Die Integration im Rahmen von digitalen Zeitungsausgaben, die Video und Ton neben den Text stellen und in die Artikel einbinden, die Entwicklungen des „digital storytelling“ und crossmedialer Formen von Inhalten sind längst keine Zukunftsmusik mehr. Es wird sich ein neues Medium entwickeln, das aus dem Buch und anderen medialen Formen hervorgeht, diese in sich aufnimmt und mehr ist, als ein additives Nebeneinander medialer Formen.

Und neben diesem dann wirklich „neuem Medium“ werden die „alten Medien“ fortbestehen, vielleicht als Nischenprodukt für einige Liebhaber, vielleicht weiter als Massenmarkt (was bei Büchern, ob nun analog oder digital durchaus nicht ausgeschlossen scheint).

Und insofern hat das Buch eine Zukunft. Etwas anderes ist es, wenn es um die Zukunft des Buchhandels geht, denn diese sehe ich zumindest in den gegenwärtigen Modellen als eher schwierig an, ohne das Thema an dieser Stelle ausbreiten zu wollen.

– Ich greife zu einem Buch, das ich den Anstreichungen folgend durchblättere; ich nehme das Lesegerät für digitale Bücher zur Hand und lass mich von seiner Volltextsuchfunktion durch die kleine Bibliothek leiten; ich mache mir Notizen mit Bleistift und Füller in ein Heft, das auf meinem Schreibtisch liegt und ergänze Einträge in meinem digitalen Exzerpt. – Ich lebe nicht in zwei Welten, sondern im hier und jetzt und ein wenig wohl auch schon in der Zukunft, die eine Vergangenheit als Gegenwart hat.

EPILOGUE: the future of print from EPILOGUEdoc on Vimeo