Die Leiden des jungen Werther 1 – Der Herausgeber als Herausgeberfiktion

Wichtige Fachbegriffe sind kursiv hervorgehoben.

Bevor der BriefromanDie Leiden des jungen Werther“ zu beginnen scheint, meldet sich eine Stimme zu Wort, die sagt, dass in diesem Buch alles gesammelt vorliege, was dieser Herausgeber der Schriften „von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können“ ((Ich zitiere nach der Hamburger Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther. In: Trunz, Erich; von Wiese, Benno, Goethes Werke Band VI: Romane und Novellen I, München 1998 (zuerst 1981), S. 7–124, hier S. 7.)).

Dieser Abschnitt wird gerne einmal überlesen, als eine Anmerkung Goethes verstanden, die dem Werk vorausgeschickt ist. Später dann folgt im zweiten Buch eine längere Äußerung des Herausgebers, die etwas weniger als ein Drittel des Gesamtwerkes ausmacht und in der von mir zitierten Ausgabe von S.92–S.124 immerhin 32 Seiten umfasst.

Wer aber ist der Herausgeber? Sind die Briefe etwa authentische Zeugnisse einer realen Person? Ist Goethe der Herausgeber?

Bei genauer Betrachtung zeigt sich schnell, dass dieser Herausgeber ein Trick des Autors ist. Goethe bedient sich hier einer Herausgeberphantasie, einer Herausgeberfiktion: Er erfindet einen Herausgeber für Werthers Briefe.

Freilich sind alle diese Briefe ebenso das Werk Goethes wie der Herausgeber seine Erfindung ist.

Goethe war nicht der erste und einzige, der sich dieses Mittels der Herausgeberfiktion bediente. Neu am Werther sind andere Dinge, die es an dieser Stelle zu einem anderen Zeitpunkt noch zu betrachten gilt.

Hier gilt zunächst einmal festzuhalten, dass Goethe einen Herausgeber erfindet, der Werthers Briefe veröffentlicht, teilweise kommentiert und sein Ende erzählt.

Vor allem für die Erzählung des Endes benötigt der Verfasser diesen erfundenen Herausgeber, denn ohne ihn hätte Goethe angesichts der Form des Briefromans das Problem, dass er die Erzählungen über den Selbstmord Werthers nicht organisch in das Werk integriert bekommen hätte.

Ohne Herausgeber, der das Ende erzählt, hätte Goethe z. B. Zeugenaussagen anfügen müssen. Das hätte dem Charakter des Werkes, das zunächst versucht als authentisches Werk beim Leser anzukommen, keine Abbruch getan, aber das hätte einen Bruch in der Darstellungslogik erzeugt.

Goethe wählte nun also einen Herausgeber. Am Anfang meldet er sich kurz zu Wort, kommentiert einzelne Briefe bzw. Briefstellen und übernimmt es, am Ende da Ende Werthers zu erzählen.

Goethe macht mit diesem Herausgeber sichtbar, was für jeden Roman gilt: Es gibt zwischen dem Autor und der erzählten Geschichte noch eine Instanz, die Instanz des Erzählers der Geschichte, die eben nicht identisch mit dem Autor ist.

Dieser Ich- oder Er-/Sie-Erzähler übernimmt das Erzählen und erleichtert Autoren durch die so entstehende Distanz zum Text, diesen so zu erzählen, dass keine Identifikation mit den Figuren notwendig ist.

Dieser Ich- oder Er-/Sie-Erzähler erzeugt aber auch eine bestimmte Haltung dem erzählten Geschehen gegenüber: Der Ich-Erzähler ist immer in die Handlung eingebunden, er ist in die Geschichte involviert. Der Er-/Sie-Erzähler kann neutral und zum Geschehen distanziert erzählen, er kann aber auch aus der Sicht einer Figur erzählen und somit auch sein Wissen über die Handlung auf die Perspektive dieser Figur beschränken. Diese Nähe zu einer Figur nennt sich personale Erzählhaltung.

Die Wahl des Erzählers ist eine Grundentscheidung, die dem Autor vorgibt, was er erzählen kann und was der Erzähler über die Figuren eines Romans nicht wissen kann. Die Wahl des Erzählers bestimmt die Nähe und auch die Distanz zu den einzelnen Figuren.

In Gothes „Die Leiden des jungen Werther“ gibt es nun neben dem Herausgeber noch den Autoren der Briefe, der als weiterer Erzähler in den Roman eingebunden wird. Werther erzählt in einer sehr persönlichen Ausdrucksform seine Sicht der Ereignisse. Der Herausgeber meldet sich im Vorwort, in Fußnoten und am Ende als mit dem Briefautor sympathiserende Figur. Der eigentliche Autor hingegen bleibt, wie bei Romanen weitgehend üblich, im Hintergrund. Das kann er auch, denn wenn ein Autorenkommentar im Werk benötigt wird, kann er den Herausgeber nach vorne schicken und ihn sagen lassen, was gesagt werden soll. – Der Autor kann sich dabei immer vom Erzähler distanzieren, kann immer bestreiten, dass die Geschichte mit seiner Meinung etwas zu tun habe.

Goethes Werter beginnt also mit einer Fiktion eines Herausgebers, der tatsächlich Werther sehr nahe steht. Vieles spricht dafür, dass der Empfänger der Briefe selbst der Herausgeber ist. So lädt der Herausgber den Leser zum Mitleiden mit dem „armen Werther“ auf. Gleichzeitig nennt er einen Grund für seine Entscheidung das Buch herauszugeben: Es soll Lesern, die in ähnliche Situationen geraten, Trost spenden und das Buch solle des Lesers „Freund sein, wenn“ er „aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden“ kann.

Vielleicht hat Goethe geahnt, welche Wirkung dieses Werk würde haben können, sodass er sich genügend Instanzen schuf, auf die er verweisen könnte, wenn die Kritik am Werk persönlich würde.

Was Goethe nicht ahnen konnte: Nach Erscheinen des Werthers war er innerhalb kürzester Zeit und bis an sein Lebensende für viele vor allem der Autor des Werthers.

Was Goethe nicht ahnen konnte: Der Roman machte ihn über Nacht zu einer europäischen Berühmtheit, begründete einen Kleidungsstil und soll nicht ganz unschuldig daran sein, dass manche junge Männer Werther nacheiferten.

Doch dazu später mehr. – An dieser Stelle ist vor allem die Frage nach dem Herausgeber interessant: Er meldet sich zu Beginn nur kurz zu Wort. Er wird vor allem zu Beginn als organisch mit dem Werk verbundene Figur gerne übersehen. Doch er gehört als literatische Figur zu diesem Roman wie Werther selbst.