2008 – Big Brother is still watching you
Mal ehrlich — was eigentlich hat man vor Augen, wenn die Rede auf George Orwells Roman »1984« kommt? Bei mir war es der Satz »Big Brother is watching you«, zu Deutsch: »Der Große Bruder sieht Dich«. So wird es zumindest in der Übersetzung von Michael Walter formuliert. Aber das Englische »to watch« meint mehr: aufpassen, bewachen, überwachen, zusehen, beobachten.
Dachte ich an den zum Schlagwort gewordenen Titel, so dachte ich an den Überwachungsstaat, Kameras überall, Kontrolle total. Ganz falsch ist das nicht. Das alles gibt es in der Welt, die Orwell vor den Lesern aufbaut – und auch in Deutschland wurden in den vergangenen Jahren immer neue Formen der Überwachung eingeführt. Aber ginge es nur um dieses eine Thema, wäre das Buch wahrscheinlich kein solcher Klassiker geworden.
An der Oberfläche handelt es sich um eine Abrechnung mit dem stalinistischen System in der UdSSR. Bis in die Physiognomie ähnelt der Große Bruder, der im Roman immer nur auf Plakaten auftaucht, dem Aussehen Stalins. Orwells Roman ist ein radikale Kritik am »real existierenden Sozialismus«. Und der Roman ist viel mehr.
Winston Smith arbeitet im Ministerium für Wahrheit. Seine Aufgabe besteht darin, Quellen immer auf den jeweils aktuellen Stand zu bringen. Es darf historisch keine Widersprüche zum jeweils aktuellen Geschichtsbild geben. Aber Winston ist nicht zufrieden. Er beginnt ein Tagebuch zu schreiben, weiß was er tut und hasst seine Arbeit. In dieser Zeit lernt er Julia kennen. Sie führen ein Leben, das es so gar nicht mehr geben dürfte: Winston und Julia lieben einander. Eine Todsünde gegenüber der Ideologie der Partei. Sie wissen: Diese Liebe ist ihr Todesurteil. Und doch glauben sie sich lange Zeit unentdeckt.… Es kommt aber alles ganz anders. Am Ende sind beide tot. Und auch das ganz anders, als wir uns vorstellen. Die Partei produziert keine Märtyrer. Am Ende liebt Winston den Großen Bruder.
Orwells Roman ist mehr als eine Kritik am Stalinimus. Ohne diesen Mehrwert hätte er nichts anderes geschrieben, als einen bald langweilig werdenden Roman. Vielleicht würde man ihm noch ein wenig Wert für die Aufarbeitung einer bestimmten Zeit in der Geschichte geben. Es ist dieser Mehrwert, der den Roman zu einem großen Kunstwerk macht: Orwell schreibt einen Roman über Macht, über Kontrolle von Menschen und ihr ganzes Leben, bis hinein in die Gedanken und Träume. Dahinter steht ein System, dass sich nur für sich selbst interessiert. Es geht um die Frage, was als Wahnsinn gilt, was als Normal. Konformismus im Dienst der Selbsterhaltung eines Systems — das will die Partei in der Welt des Romans:
»Sie sind hier, weil es Ihnen an Demut, an Selbstdisziplin mangelte. Sie wollten den Akt der Unterwerfung nicht vollziehen, der der Preis für geistige Gesundheit ist. Sie zogen es vor, ein Wahnsinniger, eine Einpersonenminderheit zu sein. Nur der disziplinierte Geist erkennt die Realität, Winston. Sie halten die Realität für etwas Objektives, Äußeres, das seinen eigenen Bestand hat. […] Aber ich sage Ihnen, Winston, daß Realität nichts Äußeres ist. […] Die Realität läßt sich ausschließlich durch die Augen der Partei erkennen. […] Es erfordert einen Akt der Selbstvernichtung, eine Willensanstrenung. Sie müssen sich erst demütigen, ehe Sie geistig wieder gesund werden können.« (299f)
Ein Schelm, der da nichts böses denkt. Es gibt sicher viele Assoziationsmöglichkeiten. Mir kam das Wort »Konformitätsdruck« in den Sinn. Macht hat der, der die Gegenwart bestimmt und die Vergangenheit verändern oder die Zukunft aus dem Blick bringen kann. Macht hat der, der den Menschen einzuhämmern vermag, was jetzt zählt. Und so ist es sicherlich kein Zufall, dass fernsehschauende Kinder bis zu ihrem 15. Lebensjahr 600000 Werbespots gesehen haben. Hier wird heute unser Weltbild geprägt. Hier wird uns in völliger Geschichtslosigkeit eine ideale Gegenwart vorgegaukelt, die all unsere Bedürfnisse zu erfüllen verspricht — wenn wir nur die richtigen Artikel kaufen. Nicht umsonst wissen Politiker die Macht der Medien zu nutzen. Und angeblich so neutrale Medien wissen ihre subtile Macht genauso geschickt einzusetzen. Man muss nur vor Wahlen die Zeitungen genau lesen, Fernsehsendungen aufmerksam verfolgen (so man denn einen Fernseher hat).
»1984« ist ein Roman über die Gegenwart. Er zeigt uns eine Welt ohne Erinnerung, eine Welt, in der nur die Interessen einer Gruppe dienen, die an die Stelle eines Gottes getreten ist und sich selbst für ewig hält, wenn es nur gelingt, alle auf Linie zu halten. Die Partei in der Welt dieses Romans nutzt da andere Hilfsmittel, als die Interessengruppen unserer Gesellschaft. Und doch könnte es einen gewissen Reiz haben, Orwells Roman zu lesen und dabei immer die eigenen Gegenwart im Blick zu haben: Wem könnten da all die Rollen zugesprochen wäre, die Orwell seinen Charakteren zuweist?
Georg Orwell, 1984, übersetzt von Michael Walter, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Herbert W. Franke, 23. Aufl. 2002, englisches Original 1949, erste deutschsprachige Ausgabe 1984, 384 Seiten, 7,95 Euro.
© by Torsten Larbig, 07.2002/zuletzt bearbeitet: 08.2008
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