Faust 1 – Hexenküche (Vers 2337–2604)
Klassische interpretationen zu dem in vielen Schulen in der Oberstufe gelesenen „Faust. Der Tragödie erster Teil“ gibt es viele. Hier eine „Interpretation“, in der die Assoziationen des Lesers konsequent zum Verstehen ( = Interpretieren) heran gezogen werden. Das hier ist also nur eine und zudem höchst subjektive Interpretation der Hexenküchen-Szene. Dabei steht der Rezipient im Vordergrund. Diese Form des Lesens von Literatur ist in meinen Augen eine der für den Leser gewinnbringenden Heraungehensweisen an Literatur: An die Stelle der Frage, was möglicherweise ein Autor gewollt haben könnte, tritt die Frage, wie ich den Text verstehe, wobei das nicht heißt, dass es sich um eine Haltung des „Das kann jeder verstehen, wie er will“ handeln würde. Leseerfahrungen bauen immer auf Leseerfahrungen auf, verbinden diese, bringen neue Leseerfahrungen hervor. Wenn diese anderen mitgeteilt werden sollen, müssen sie dies allerdings in einer Form tun, die intersubjektives Verstehen erlaubt. Und nun: „Der Worte sind genug gewechselt, / Laßt mich auch endlich Thaten sehn“ (V 215f).
Es ist ein jedes Jahre aufs Neue ein Genuss, den Faust zur Hand zu nehmen und in ihm zu lesen. Seit sechs Jahren, wenn der Herbst über das Land zieht, nahen sie sich wieder, jene schwankende Gestalten, die seit 1797 die Zueignung des Fausts füllen. Und jedes Jahr entdecke ich Neues.
Es ist aber eine Weile her, dass ich meine Entdeckungen festgehalten habe. Da kommt es mir gerade recht, dass ich heute auf eine Notiz gestoßen bin, die ich mir einst in meiner analogen Leseausgabe gemacht habe: „Das Spiel der Täuschungen. Hoch aktuell!“
Diese Randnotiz habe ich neben die Regieanweisung zur Szene „Hexenküche“ notiert. Und ich müsste es mir gar nicht mehr daneben schreiben. Jedes Mal, wenn ich dieses Szene lese, habe ich die gleichen Assoziationen.
Faust will jünger werden. Sein ideal scheinen dreißig Jahre (V 2342) zu sein. Doch als er den Ort sieht, an dem das geschehen soll, ist er skeptisch: „Versprichst du mir, ich soll genesen, / In diesem Wust von Raserey? / Verlang’ ich Rath von einem alten Weibe?“ (V 2338–2340).
Mephistopheles hat da einen Tipp, wie Faust ohne Hexerei jünger werden könne. Kurz gefasst empfiehlt er Faust, er soll aufs Feld gehen und arbeiten, sich gesund ernähren und jegliche Aufregung meiden, die das Leben sonst so zu bieten hat. (V 2351–2361)
Das will Faust dann aber eher nicht.
Also muss die Hexe ihren Trank brauen, den Faust unter Anleitung eines erfahrenen Trainers zu sich nehmen muss, denn die Hexe mahnt: „Doch wenn es dieser Mann unvorbereitet trinkt, /
So kann er, wißt ihr wohl, nicht eine Stunde leben.“ (V 2526f)
Mephistopheles beruhigt. Es sei alles gut, so lässt er sinngemäß verlauten. (2528-2531)
Was für ein seltsames Labor aber ist es, in dem Faust gleich diesen Verjüngungstrunk nehmen soll. Meerkatzen und anderen Tiere führen dort ihr Eigenleben, sind im Dienst der Hexe, treiben so manche Schelmerei und können auch noch sprechen.
Während in Auerbachs Keller die Studenten passiv blieben und sich Tiernamen gaben und mehr als humanoide Bestien denn als Menschen präsentiert wurden, zeigen hier die Tiere nun Vernunft, mit der sie handeln Können. Eine verkehrte Welt, die den Verkehrungen entspricht, in die Mephistopheles Faust noch zu verwickeln gewillt ist.
Doch bevor Faust für den Zaubertrank endgültig reif ist, gerät er schon in einen anderen Bann, als er vor einem Zauberspiegel in der Hexenküche stehen bleibt und – nicht sich darin erblickt:
„Faust welcher diese Zeit über vor einem Spiegel gestanden, sich ihm bald genähert, bald sich von ihm entfernt hat.
Was seh’ ich? Welch ein himmlisch Bild
2430 Zeigt sich in diesem Zauberspiegel!
O Liebe, leihe mir den schnellsten deiner Flügel,
Und führe mich in ihr Gefild!
Ach wenn ich nicht auf dieser Stelle bleibe,
Wenn ich es wage nah’ zu gehn,
2435 Kann ich sie nur als wie im Nebel sehn! –
Das schönste Bild von einem Weibe!
Ist’s möglich, ist das Weib so schön?
Muß’ ich an diesem hingestreckten Leibe
Den Inbegriff von allen Himmeln sehn?
2440 So etwas findet sich auf Erden?“ (Die Zahlen geben die jeweiligen Verse an)
Der Zaubertrank, den sich Faust in ein paar Versen zuführen wird, hat nicht nur verjüngende Wirkung, sondern auch noch einen Nebeneffekt: „Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe.“ (V 2603f)
Fassen wir zusammen: Faust will jünger und fitter werden, hat aber absolut keine Lust auf Feldarbeit, muss also auf die Dienste der Hexe zurückgreifen und sich mittels derer Braukünste den Körper verschaffen, den er will. Und während er da wartet, gaukelt ihm ein Zauberspiegel den Anblick der schönsten Frau vor, die er sich vorzustellen vermag.
Und das soll aktuell sein?
Wir nennen es (als Städter) vielleicht nicht mehr Feldarbeit, aber im Grunde ist das doch nach wie vor der Tipp, der einen am einfachste fit halten könnte. Statt dessen haben wir den Sport erfunden und einen Markt drum herum gebastelt. Statt dessen kann man sich den Künsten der plastischen Chirurgie hingeben. Wer seinen Körper mit Muskelmasse versehen will, schafft sich irgendwelche Dosennahrung (Proteine) in überdimensionierten Pappdosen an. Wen Falten stören, der greift zu dem (hochgiftigen) Botulinumtoxin (Botox).
Und auf Werbeplakaten, aus Fernsehbildschirmen, Zeitschriften, im Internet lächeln uns idealisierte, mit dem Computer nachbearbeitete Idealbilder von „Menschen“ an, denen manch einer nacheifert, aus welchen Gründen auch immer.
Die Hexenküche ist verkehrte Welt. Und wo verkehrte Welt ist, da ist diese Hexenküche.
Mephistopheles lebt, geht es mir dann durch den Kopf. Und wir fallen auf ihn rein.
Wo das Fitnessstudio mit dem Auto angesteuert wird, während man selbst zum Bäcker um die Ecke kaum noch zu Fuß geht, wenn Kleidungsstücke mit aufgesticktem Markenzeichen für viel Geld verkauft werden und Image mit sich bringen, während in der gleichen Produktionsstätte und unter identischen Arbeitsbedingungen die gleichen Kleidungsstücke ohne Markenzeichen hergestellt und an Billgkaufhäuser verkauft werden, wenn modelartige „Türsteher“ meist jugendlichen Kunden den Zugang zur Filiale eines Kleidungsgeschäftes gewähren, nachdem diese erst in aller Ruhe in der Schlange vor der Hexenk… äh … vor dem Laden standen, wenn Geld für Menschen „arbeiten“ kann, wenn jemand einen Friedennobelpreis bekommt, der noch keinen Tag als Präsident verbracht hat, an dem sein Land nicht in einem Krieg gewesen wäre, wenn …
Hatte ich gesagt, ich halte die Szene „Hexenküche“ aus „Faust. Der Tragödie erster Teil“ für aktuell, so ist es diese Aktualität, in die hinein diese Szene für mich spricht. Und diese Aktualität ist immer im Fluss, kann für jeden Leser und jede Lesergeneration anders aussehen. Klar, man muss sich die Mühe machen, damit zu rechnen, dass Literatur über die Grenzen ihrer eigenen Zeit hinaus Lesenden anderer Zeiten etwas und anderes zu sagen hat, als in den Zeiten ihrer Entstehung intendiert war; klar, man muss sich ein wenig trauen, sich selbst der Literatur auszuliefern, um sich von ihr Assoziationsräume öffnen zu lassen, die ohne die Literatur verschlossen geblieben wären. Aber wenn man sich der Literatur schließlich hinzugeben bereit ist, dann kann sie neue Welten öffnen, dann entwickelt sich in der Begegnung des Lesers mit dem Text eine Magie, die das Leben von Lesern verzaubern kann, sei es für den Augenblick oder auf sehr lange Zeit.
Es ist Herbst. Wieder einmal lese ich im Faust. Jahr für Jahr. Und jedes jahr entdecke ich neue Seiten an diesem Werk, jedes Jahr lese ich ihn vor dem Hintergrund von einem Jahr mehr an Lebenserfahrung. Und wieder einmal bin ich über die „Hexenküche“ gestolpert. Es war höchste Zeit, diese Szene in die Reihe der hier im Blog bereits vorhandenen Artikel zum Faust 1 aufzunehmen.
Und nun ist es gut. Jetzt lies selbst. Den Faust oder irgendein literarisches Werk, auf dass du dich einlässt. Und wenn du magst, schreib über deine Leseerfahrungen: Hier als Kommentar oder in deinem Blog. Wenn du dann einen Link in den Kommentaren hinterlassen würdest, wäre das toll. Denn ich will gerne wisse, was andere beim Lebsen so erleben.
Vielen Dank für die hilfreichen und inspirierenden Blogeinträge! Ich lesen den Faust aktuell für die Abivorbereitung noch einmal und entdecke ebenso neue Dinge die mir beim ersten Lesen nicht aufgefallen sind! Die Teufelssatire in der Paktszene, wo Mephisto Faust bitten muss ihn zu entlassen (wegen des Drudenfußes), ist mir in dieser Form vorher nicht aufgefallen. Auch dass Mephisto nachher die Ratten bittet für ihn das hölzerne Symbol wegzuknabbern, entmachtet ihn als Teufel auf eine so ironische Weise wie wir es nie im Unterricht besprochen haben. Das sind meine neuesten Erkenntnisse zu Faust 🙂 Ihren Beitrag zur Hexenküche fand ich auch sehr interessant!! Weiter so, ich bin eine treue Leserin
Liebe Grüße
Luise