Kompetenzorientiert unterrichten: Ein Vorschlag.

Das folgende Szenario ist zwar nicht unrealistisch, in der hier vorgelegten Form aber frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Erlebnissen im Unterricht sind nicht gewollt, werden nicht angestrebt, dürften aber nicht vermeidbar sein.

Oberstufe, Deutsch Grundkurs. Die Schülerinnen und Schüler bekommen nach der (vom Lehrer unterstellen, nicht in allen Fällen tatsächlich erfolgten) Lektüre eines Dramas den Auftrag, die Figuren des Dramas in ihren Beziehungen zueinander in einer grafischen Form darzustellen. Der Lehrer erwartet, dass die Schülerinnen auf der Basis des Personenverzeichnisses des Dramas, ihrer beim Lesen erworbenen Textkenntnis und der gezielten, wiederholten Lektüre einzelner Szenen, zu einem vertieften Verständnis des Dramas kommen. Die Aufgabe wird Mittwochs erteilt und soll bis zur nächsten Stunde am Dienstag der Folgewoche bearbeitet sein.

Am Dienstag macht der Lehrer die ihn überraschende Entdeckung, dass zwar 80% des Kurses die Aufgabe gemacht haben, von diesen aber 50% zwei Nebenfiguren nicht berücksichtigt haben und durchweg den gleichen Fehler in der Grafik gemacht haben.

Alternative: Am Dienstag macht der Lehrer die ihn überraschende Entdeckung, dass zwar 80% des Kurses die Aufgabe gemacht haben, die Grafiken aber alle super korrekt sind und sich extrem ähneln, als ob sie voneinander abgeschrieben worden wären.

Welcher Fall auch eintreten mag, der hier gedachte Lehrer ist äußerst überrascht und fragt sich, was da passiert ist.

Hier nun ein paar Beispiele, wie es abgelaufen sein könnte:

– Der Lehrer ist mit der Aufgabenstellung in eine Klausurenwoche geraten, die so aussah, dass Donnerstag, Freitag und Montag Arbeiten geschrieben wurden. Die Schülerinnen und Schüler haben hier ihre Schwerpunkte gesetzt. Um so erstaunlicher, dass dennoch 80% des Kurses die Aufgabe „gemacht“ haben.

– Die Schüler haben in weit geringerem Ausmaß die Lektüre gelesen, als der Lehrer angenommen hat. Er geht davon aus, dass das Lesen Hausaufgabe war und er jetzt mit dem Werk so arbeiten könne, als sei diese auch von allen bewältigt worden. In Wirklichkeit haben 25% den Text bereits ganz gelesen, während weitere 30% etwa bei der Hälfte angelangt sind, 25% die Textausgabe zwar vorliegen, aber mit der Lektüre noch nicht begonnen haben, und 20% die Textausgabe noch gar nicht verfügbar haben, aus welchen Gründen auch immer. — Auch in diesem Falle ist es erstaunlich, dass so viele Schüler die Hausaufgabe „gemacht“ haben.

Was aber ist passiert? Ein nicht unrealistisches Szenario ist, dass die Schülerinnen und Schüler zur Bewältigung der Aufgabe, die bei einem Drama alles andere als untypisch ist, im Internet recherchierten und dort entdeckten, dass die Lösung der Aufgabe, sogar in Form von Schaubildern, abrufbar ist. Im Szenario mit den kollektiv auftretenden, identischen Mängeln, wurden die Schüler via hoch geranktem Suchmaschineneintrag zu einer fehlerhaften Grafik geführt, die ohne Überprüfung übernommen wurde, wenn auch vielleicht nicht einfach ausgedruckt; im Szenario mit den richtigen, einander sehr ähnelnden Grafiken ist das gleiche passsiert, nur das mittels Suchmaschine gefundene Ergebnis war zuverlässiger als im ersten Fall.

Der Lerneffekt dieser Aufgabe kann angesichts des Umgangs der Schülerinnen und Schüler mit ihr als sehr niedrig angesetzt werden. Dies mag man mangelnder Motivation zuschreiben, den Umständen anlasten, in deren Kontext die Aufgabe gestellt wurde oder aber als „ganz normales Schülerverhalten“ abtun und so die gesamte  Verantwortung für den geringen Lerneffekt den Schülern und Schülerinnen anlasten.

All diese Einschätzungen mögen der Realität sehr nahe kommen. Aber selbst dann, wenn die Schüler unmotiviert sind, sich durch Klausurendichte überlastet fühlen oder „normales Schülerverhalten“ angesichts solcher Aufgaben zeigen, entlastet das den Lehrer nicht von der Frage, warum solche Aspekte in der Unterrichts- und Aufgabenplanung nicht berücksichtigt wurden, gehört Lerngruppenanalyse doch durchaus zu den Ausbildungsgegenständen im Referendariat — und für gelingenden Unterricht zum Kerngeschäft des Lehrers.

Aber auf Lehrerseite gilt, eigentlich ähnlich wie auf der Schülerseite, dass das Stundendeputat, die Zahl der anstehenden Korrekturen etc., möglicherweise nicht in jedem Fall eine den Ansprüchen von Unterrichtsbesuchen im Referendariat angemessene Berücksichtigung aller Details bei der Unterrichtsplanung zulässt. Die Aufgabe wurde möglicherweise einem vorhandenen Unterrichtsentwurf, einem Schulbuch oder gar, man achte auf die Parallelität im Verhalten zu dem der Schüler, einer Website entnommen, ohne dass über die Aufgabenstellung und die in ihr liegenden Möglichkeiten und Grenzen näher nachgedacht wurde.

Nun könnte man annehmen, die Wurzel allen Übels läge im „verdammten“ Internet, läge darin, dass der Mensch wenig Sinn darin sieht, bereits vorhandenes und leicht greifbares Wissen noch einmal wirklich zu erarbeiten, völlig unabhängig davon, ob es sich dabei um Lernende oder Lehrende handelt.

Man kann aber auch in Erwägung ziehen, dass es nicht unangebracht sein könnte, die Tatsache des heute viel leichter greifbaren Wissens via Internet in die didaktische und methodische Planung des Unterrichts einzubeziehen.

Wie aber könnten Lösungen für das Problem aussehen?

Antworten auf diese Frage sind längst vorhanden. In vielen Fällen werden sie auch von Lehrenden schon lange berücksichtigt. Mal werden diese Antworten mit dem Begriff „Projektunterricht“ zusammengefasst, mal wird von „problemorientiertem Unterricht“ gesprochen, auf jeden Fall aber sind diese Antworten seit mindestens den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verfügbar. Und auch der Begriff der „Kompetenzorientierung“ fügt diesen Antworten weit weniger Neues hinzu, als es die öffentliche Darstellung vermuten lässt. Nein, Kompetenzorientierung ist im Unterricht vieler Lehrender bereits seit längerem viel stärker angezielt, als man angesichts des Getöses um diesen Begriff meinen könnte.

Kompetenzorientierung von Unterricht ist vor allem eine Differenzierung und Ergänzung bisheriger Antworten, aber mitnichten eine Neuerfindung des Unterrichtens. Zumindest wer konstruktivistischen Modellen des Lernens und Lehrens folgt, orientiert sich längst an Kompetenzen. Die Veränderungen, die mit diesem Begriff verbunden sind, liegen 1. im Wechsel der Vorgaben von input-orientierten hin zu output-orientierten Formulierung in Lehrplänen, die nun Bildungsstandards kreieren und kerncurriular orientierte Vorgaben machen und 2. in der stärkeren Berücksichtigung metakognitiver Prozesse der Lernenden, die den eigenen Lernprozess stärker reflexiv in den Blick nehmen, als dies bislang der Fall gewesen sein dürfte.

Doch zurück zu Ausgangsfrage. Wie könnten oben angesprochene, für das Lernen wenig effektive Szenarien anders gestaltet werden?

Voraussetzung für eine Aufgabenkultur, die Lernprogression möglich macht, ist, dass die leicht greifbare Verfügbarkeit von Wissen via Internet akzeptiert wird, ohne den Anspruch aufzugeben, dass Wissen anzueignen ist. Ja, auch im Begriff der Kompetenzorientierung wird Wissen im Idealfall nicht zum überflüssigen Appendix, sondern bleibt nach wie vor Teil dessen, was Schule leisten soll. Kompetent zu sein bedeutet eben nicht, nur zu wissen, wo ich Wissen nachschlagen kann 😉

Kompetenzorientierung zielt vor allem auf die Frage ab, wie mit Wissensbeständen, die verfügbar sind, so gearbeitet werden kann, dass das Wissen dabei auch erworben wird und in einen Kontext des handelnden Umgangs mit Wissen gestellt wird.

Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis, das bewusst fern der von mir studierten Fächer angesiedelt ist. Dieses Blog betreibe ich mit WordPress. Ich bediene mich also einer von anderen programmierten Plattform und arbeite mit ihr. Bei dieser Arbeit komme ich aber immer wieder an Punkte, an denen ich über die Vorgaben des Programms und des gewählten Themes meines Blogs hinaus etwas umsetzen möchte. Ich beginne dann, im Code des Programms oder des Themes etwas zu verändern. Da ich aber von PHP eigentlich keine Ahnung habe, muss ich recherchieren, bedienen ich mich bei dem Wissen, das andere generiert und zur Verfügung gestellt haben. Ich kann dieses Wissen aber nicht einfach abschreiben, sondern muss es im Kontext der Aufgabe, die ich mir gerade selbst gestellt habe, anwenden. Und auch ein Auswendiglernen der Regeln dieser Programmiersprache würde mir nicht viel helfen, solange ich keine Ahnung davon habe, was die einzelnen Codeschnipsel im Zusammenhang bewirken.

Im Laufe der Zeit beobachtete ich, dass ich für immer mehr der von mir angestrebten Eingriffe in den Code, der diese Website am Laufen hält, immer seltener in Referenzwerken nachschlagen musste. Ja, nachdem ich ein wenig von dem Grundprinzip der Programmiersprache verstanden hatte, konnte ich sogar an Stellen von dem mir angeeigneten Grundverständnis der Programmiersprache (wirklich nur Grundverständnis, da ich mir die Aufgabe bislang nicht stellte, richtig komplexe PHP-Probleme anzugehen) ausgehend, ohne einen Blick in Referenzwerke zu werfen, Lösungen für Aufgaben finden, die mir vorher nicht begegnet waren. Ich habe mir also eine Grundkompetenz im Umgang mit PHP angeeignet.

In einem Kompetenzenmodell könnte das so umschrieben werden: „Hat sich auf der Basis vorhandenen PHP-Codes die Komptenz angeeignet, einfache bis mittelschwere Aufgaben zu lösen, die zu dem vorhandenen Code neue Funktionen hinzufügen oder vorhandene Funktionen an eigene Bedürfnisse anpassen. Dabei ist er in der Lage, Referenzwerke angemessen einzusetzen und, von vorhandenen Kenntnissen ausgehend, auch Lösungen auf der Basis eines erworbenen Grundverständnisses, zumindest bei einfachen Arbeiten im Code, zu finden, ohne erneut in einem Referenzwerk nachzuschlagen.“

Nun scheint es auf den ersten Blick leichter, Aufgaben mit Handlungsorientierung zu entwerfen, wenn es um die Anwendung einer Programmiersprache geht, als im Kontext des Umgangs mit Literatur. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass das hier beschriebene Lernprinzip in allen Fächern anwendbar ist, auch dort, wo es um weit mehr als nur Grundkompetenzen geht, wie zum Beispiel in Leistungskursen oder im Studium.

Die Antwort auf die oben dargestellten Phänomene im Umgang mit Aufgaben im Unterricht muss also berücksichtigen, dass Aufgaben nicht so gestellt werden sollten, dass Antworten 1:1 aus Referenzwerken übernommen werden können. Im Gegenteil: Es sollte sogar der Umgang mit solchen Referenzen vorausgesetzt und gefördert werden. Es kann nicht darum gehen, Lernende oder Lehrende schief anzuschauen, wenn sie Internetressourcen nutzen. Es muss vielmehr darum gehen, diese in den Prozess der Lernprogression (des nachvollziehbaren und vielleicht sogar messbaren Lernfortschritts) einzubeziehen und entsprechende Aufgaben zu kreieren.

Eine einfache Form im Kontext der oben genannten Aufgabe zu den Figurenkonstellationen in einem Drama könnte zum Beispiel lauten: „Wie stehen die Figuren im Drama zueinander in Beziehung? Im Internet finden sie unter xxx und yyy zwei Grafiken, die diese Konstellationen darzustellen beanspruchen. Die Ergebnisse dieser Grafiken sind unterschiedlich. Welche stimmt? Wo liegt in einer der beiden Grafiken der Fehler? Können Sie erklären, wie es zu diesem Fehlern gekommen ist?“

Wie gesagt, dieses Beispiel ist eines der weniger komplexen Art, unter anderem auch deshalb, weil es noch wenig Differenzierungsmöglichkeiten für unterschiedliche Leistungsstufen oder Lerntypen beinhaltet. Es gibt aber ein wenig die Richtung vor, in die effektive Lernaufgaben heute zielen sollten / müssen.

Die Voraussetzung für effektives Lernen ist, dass echte Aufgaben zu bewältigen sind. Schüler und Schülerinnen kennen das in der Regel aus Zusammenhängen, in denen sie ihren Hobbys folgen, sei es im Sport, sei es im Kontext von Musik, Kunst oder auch Computerspielen der komplexeren Art, zu denen es teilweise auch Referenzseiten mit Wissensbeständen zum Spiel gibt.

Wie könnten solche Aufgaben im Deutschunterricht aussehen, die zum Teil zumindest auch Kompetenzen fördern, die zum Deutschunterricht gehören, aber nicht zwangsläufig zu einer Lektüre?

Ich konstruiere hier ein paar Beispiele, würde mich aber sehr freuen, wenn im Rahmen der Kommentare zu diesem Artikel ein ganzer Reigen solcher Aufgabentypen zusammenkommen würde.

– Bei historischen Texten kann man die Aufgabe stellen, eine Zeitungsseite zum Thema zu erstellen und so gleichzeitig, dem Ansatz eines integrierten Unterrichtsmodells folgend, den Aufbau von Nachrichten, Berichten Reportagen, Kommentaren und Glossen als zu erwerbende, zu wiederholende oder auszubauende Kompetenzen kennen lernen, vertiefen und üben.

– Bei Texten, die neben textimanenter Arbeit auch einen stark biographischen Bezug zum Autor erlauben (z. B. Texte von Kafka oder Brecht), können Formen des Interviews nicht nur in schriftlicher Form als Aufgabe gegeben werden – sondern auch als Audioproduktion oder Video.

– Im Rahmen der sprachreflexiven Arbeit können kreative Aufgaben gestellt, werden, die mit bestimmten sprachlichen Phänomenen so umgehen, dass z. B. eine Ausstellung oder auch Lesungen möglich sind.

– Kurzgeschichten können als Video, als Theaterstück, als Hörspiel etc. erarbeitet werden.

Zusammengefasst: Aufgaben in der Schule müssen heute davon ausgehen, dass Wissen via Internet oft sehr leicht greifbar ist und darauf ausgerichtet sein, dass sie nicht schon als Aufgabe dazu verleiten, dem Copy&Paste-Prinzip zu folgen. Vielmehr scheint es für die Progression des Lernens sinnvoll, den handelnden Umgang mit solchen Ressourcen zu fördern und so die Möglichkeit zu schaffen, sich dieses Wissen angesichts wirklich herausfordernder Aufgabenstellungen anzueignen und somit idealerweise nachhaltig verfügbar zu machen.

Ziel solcher Lernarrangements ist es, Lernende in eine handelnde Auseinandersetzung (Zusammensetzung! — im konstruktivistischen Sinne) mit dem zu Lernenden zu bringen. Dabei können unterschiedliche Lerntypen berücksichtigt werden und Differenzierungen vorgenommen werden, ohne dass für jeden Lernenden eine eigene Aufgabe erstellt werden müsste, kann die Form der Auseinandersetzung (per Text, Grafik, andere Formen der visuellen oder auditiven Umsetzung) je nach Aufgabentyp und angesichts der gleichen Aufgabe doch durchaus unterschiedlich sein.

Im Rahmen solcher Aufgaben werden Wikipedia und Co von Seiten zum Kopieren von Text zu Referenzseiten, die man nutzt, um ein Problem zu lösen, ohne das vorhandene Wissen 1:1 übernehmen zu können, weil es Teil der Auseinandersetzung (Zusammensetzung) mit einer echten Herausforderung wird. Und auch für analoge Wissensspeicher gilt dies, wenn zum Beispiel Bibliotheken für den Unterricht nutzbar sind. Museen können auf diesem Wege unterrichtsrelevant werden, regionale Möglichkeiten integriert werden …

Und am Ende steht vielleicht der Schluss, dass Kompetenzorientierung weder die Neuerfindung des Rades ist, noch eine überfordernde Herausforderung, sondern eine Form des Unterrichts, die (auch in Sachen Wissen) echte Lernfortschritte ermöglicht, die reflektierbar sind und auch noch Spaß machen, den Lernenden womöglich genau so wie den Lehrenden. Das aber wäre eine echte Bildungsreform: Ein Lernen, das häufiger wirklich Spaß macht, als das Klischee der Schule vermuten lässt.